Der Hausarzt als Partner in der Versorgungskette
Generationen übergreifendes Miteinander bei der Versorgung Demenzkranker
In Heft 37 berichteten wir: Hausärzte sind – so hatte die Begleitforschung zum PRO DEM Projekt ergeben - nach einer gewissen Übung sehr gut in der Lage, beginnende Demenzprozesse zu antizipieren, wenn ein ausreichend hoher gemeindenaher Organisationsgrad bezüglich der Früherkennung der Demenzerkrankung und eine ausreichend große Entstigmatisierung der Erkrankung in der Region erfolgt ist. Das geforderte therapeutische Gesamtkonzept muss für jeden einzelnen Patienten maßgeschneidert werden.
Fortsetzung:
Unsere örtliche Versorgungskette in Brinkum, einer Vorstadt von Bremen, sieht so aus: Demenzpatienten werden in den Praxen direkt oder über Hinweise von Angehörigen anderer Gesundheitsberufe entdeckt, hausärztlich untersucht und wenn nötig dem Nervenarzt vorgestellt. Die Befunde werden mit Wissen der Betroffenen an die PRO DEM-Koordinatorinnen weitergereicht. Seit wir ein in der Region bekanntes Haus restaurieren und dort das PRO DEM Büro gut zugänglich eingerichtet haben, hat der Zugang über die Beratungsstelle erheblich zugenommen. Diese Patienten werden dann von den Koordinatorinnen zu Hause besucht. Es wird die Pflegeanamnese erhoben und der persönliche Hilfebedarf ermittelt. Wichtig ist das persönliche Kennenlernen von Patient, Familie und PRO DEM-Koordinatorin. Über den Gesamttherapieplan wird auf der multidisziplinären Konferenz, die alle acht Wochen stattfindet, entschieden. Hier treffen sich Ärzte aus 8 bis 10 Praxen, Arzthelferinnen, Angehörige der anderen Gesundheitsberufe, der Pflege, der Tagespflege und der stationären Einrichtungen. Hier wird das Therapiekonzept für jeden einzelnen Demenzpatienten der Region maßgeschneidert und der Verlauf kontrolliert.
Die Hilfestellungen bestehen in mehreren sehr lebendigen Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige, einer Gesprächsgruppe für Patienten in Frühstadien mit Anleitung, vier Betroffenengruppen und zwei Betreuungsgruppen. Die Tagesbetreuung findet in einem kürzlich eröffneten Mehrgenerationenhaus statt, wo Gesunde, Kranke und Professionelle gemeinsam einkaufen, Essen bereiten, gemeinsam essen, abwaschen, gärtnern und klönen. Der zentrale Drehpunkt sind die Betreuungskoordinatorinnen, die sowohl im Hause der Patienten als auch in ärztlichen und therapeutischen Praxen dafür sorgen, dass pünktlich das Notwendige für den Patienten getan wird. Zusätzlich zur Pharmakotherapie gibt es also soziale Angebote mit den verschiedensten Betreuungsbausteinen aus der Ergotherapie, Musiktherapie, Physiotherapie, Kunst- und Bewegungstherapie. Gesellschafterinnen entlasten auf Zeit die pflegenden Angehörigen zu Hause.
Um zu zeigen, wie individuell unsere Hilfen sein können, ein Patientenbeispiel:
Erzählen möchte ich von einer jetzt 74-jährigen Frau H., in unserer Praxis seit 1960 bekannt. Leitdiagnosen über die Jahre: Hypertonus, Coxarthrose bds., allgemeine Artherosklerose. Als junge Frau war bei ihr einmal eine Thyreotoxikose behandlungsbedürftig, danach Jahre lang nur Bagatellverletzungen, bzw. Impfungen als Beratungsursache.
Im Jahre 1991 beginnen Klagen über „Herzunruhe“ und Karteikarteneinträge wie: „will alles schaffen“, „möchte Autogenes Training lernen“, „innere Unruhe, obwohl keine Probleme“, „Angstgefühl“, „Bauchschmerzen“. Eine kardiologische Diagnostik erbrachte keinen Organbefund. 1994 und 1995 werden auf Veranlassung des Orthopäden die Hüften beidseits operiert. Seit 1996 beklagt der Ehemann immer wieder bei eigenen Arztbesuchen nicht näher beschreibbare Veränderungen bei seiner Frau: Putzwut, Rückversicherungszwang, schlechtere Küche. 1999 begibt er sich in die Angehörigengruppe von Demenzkranken: obwohl er hier das Gegenteil hört, lässt er nicht zu, dass bei seiner Frau eine Diagnostik vorangetrieben wird. „Nein, sie würde viel bessere Leistungen im Englischunterricht bringen als er. Sie spiele noch Karten, nur gelegentlich müsse er in der Küche aufräumen.“ 1999 war auch beim Neurologen „kein ausreichender Anhalt für das Vorliegen eines hirnorganischen Abbauprozesses nachweisbar“. Der Ehemann beschreibt in den Jahren danach subtil eine Verschlechterung und den sozialen Rückzug der Patientin. 2001 spricht der Nervenarzt von einer „leichten kognitiven Störung“, 2002 weiterhin von „minimalem kognitiven Impairment“, das dann 2003 doch sehr deutlich in einen dementiellen Prozess mündet mit deutlicher Progredienz der mnestischen Störung, was sich bei den Hobbys und in den Alltagsleistungen widerspiegelt.
Später im Jahr wird dann von einer Demenz vom Alzheimer- Typ gesprochen und eine medikamentöse Therapie eingeleitet. Obwohl der Ehemann weiterhin ganz konsequent die Angehörigengruppe besucht, verhindert er immer noch die Einbeziehung der Patientin in das soziale PRO DEM-Gefüge. Es ist der Koordinatorin zu verdanken, die durch persönliche Verbindlichkeit die Patientin dann in die Gesprächsgruppe zieht. Dort legt sie zwar nicht ihre Unsicherheit, Vorsicht und Misstrauen ab, dennoch kommt sie und lässt sich dann auch in die Betroffenengruppe mit einbeziehen. Weihnachten 2004 stirbt der Ehemann auf dem OP-Tisch und es findet eine rasante Verschlechterung der Leistungsfähigkeit der Patientin statt, so dass die Koordinatorin sich entschließt, sie in die Tagesbetreuung aufzunehmen. Heute ist die Patientin mit viel Unterstützung in das Mehrgenerationenhaus integriert. Da die in der Nachbarschaft wohnende Tochter die Pflege in der verbleibenden Zeit zu Hause nicht mehr leisten kann, haben wir uns entschlossen, zum 15. Mai diesen Jahres um Frau H. herum eine Wohngemeinschaft zu etablieren.
Fazit
Unsere integrierte, gemeindenahe Versorgung der Demenzpatienten durch Hausärzte, Fachärzte, therapeutische Gesundheitsberufe, Pflege, Apotheker, soziale Dienste im richtig verstandenen ambulanten Team bringt über die Verbesserung kognitiver und allgemein klinischer Zustände ca. 2 Punkte auf der MMSE Skala pro Jahr und eine verbesserte Lebensqualität für die betroffenen Patienten und deren Familien. Dies führt nach allen bisherigen Berechnungen zur Einsparung von Ressourcen.
Früherkennung und konsequente Behandlung der Demenzerkrankung und die Stärkung der familiären Ressourcen geht am besten im ambulanten Team und mit Hilfe verabredeter Versorgungskonzepte. Alzheimer-Patient und Familie sind irgendwann in solch einem Spannungszustand, dass nur professionelle Angebote und positive Beispiele in der Angehörigengruppe zur Entlastung führen. Die Vielzahl der wohlmeinenden Hilfsangebote um den Patienten und seine Familie herum ist so verwirrend, dass sie nur in einem vernünftigen Case-Management genutzt werden können. Der Patient muss eingebracht werden in ein geplantes Versorgungskonzept. Es muss sein persönlicher Hilfebedarf festgestellt werden. Es muss dann seine Hilfestellung geplant werden unter Ausnutzung der familiären Ressourcen und der regionalen Möglichkeiten. Die Umsetzung dieser Hilfsangebote obliegt den Angehörigen, dem Hausarzt bzw. dem Nervenarzt, den verschiedenen sozialen und Pflegediensten, aber auch den Angehörigen der verschiedenen Gesundheitsberufe. Dabei kann es durchaus zu einer Aufgabenteilung im Case-Management kommen, wenn Kontrolle und Dokumentation gewährleistet sind. Allen miteinander obliegt die Entstigmatisierung und Enttabuisierung der Begriffe „Demenz“ und „Alzheimer“ beim Patienten und in der Region. Nach Früherkennung und Basisdiagnostik ist es am Hausarzt, gemeinsam mit den Angehörigen das Versorgungsziel für Patient und Angehörige zu definieren. Gesteuert wird der Prozess, wenn möglich von Hausarzt und Beratungsstelle gemeinsam - in unserem Falle von der Fallkonferenz. Sie sorgen für eine stadienabhängige strukturierte individualisierte Betreuung von Patienten und Angehörigen. Die Hilfe der nervenärztlichen Praxis besteht in deren erweiterter Kompetenz bei Diagnostik und Therapie und bei Komplikation. Die Angehörigen müssen letztlich die Organisation der Versorgung gewährleisten.
Da es sich um einen Krankheitsprozess handelt, der nicht aufhaltbar aber abbremsbar ist, besteht die Kunst des Case-Managements darin, Angebote zu nutzen, die einer Versorgungskette gleichkommen. Angehörige erfahren in einer psychologisch therapeutischen Selbsthilfegruppe, dass andere Menschen mit dem Problem, was sich vor ihnen wie ein Berg auftürmt, „klarkommen“. Dies bringt Entlastung und Zuversicht. Anfangs bedürfen die Patienten des Kontaktes und des Gespräches, um sich mit gleich Betroffenen über die Defizite, die sie immer wieder bemerken und die sie jedes Mal kränken, auszutauschen. Mit Fortschreiten des Prozesses wird der Patient in die Betroffenengruppen übernommen. Ein- bis fünf Mal pro Woche findet hier Gemeinsamkeit statt. Ergänzt werden diese Gruppenangebote durch Einzelleistungen der Gesellschafterinnen in der Häuslichkeit des Patienten: Vorlesen, Haare waschen, Einkaufen....
In den Betreuungsgruppen, in denen Patienten mit fortgeschrittenem Stadium zusammengefasst werden, ist der Betreuungsschlüssel 1:1. Hier wird, wenn die Pflege immer belastender wird, eine Entlastung der pflegenden Angehörigen für mehrere Stunden angeboten. Tagesbetreuung oder Tagespflege geben längere Entlastung und führen in einem späteren Stadium zu neuer sozialer Umgebung. Dazu kommt Kurzzeitpflege oder die Nutzung von Nachtbetten, so dass pflegenden Angehörigen eine gewisse Freiheit verbleibt, bevor der Patient in eine betreute Wohngemeinschaft oder in ein Heim aufgenommen wird.
Ich bin mir bewusst, dass nicht überall solche gewachsenen Strukturen zur Verfügung stehen - wir haben allein in diesem Jahr 3 Ganztags-, 6 Teilzeit- und 20 Honorarstellen geschaffen. Doch ich möchte sehr für das Ziel „ambulantes Team und Versorgungskette“ werben.
Unsere Fallkonferenz macht allen Beteiligten Freude, da wir das Gefühl haben, gemeinsam etwas Vernünftiges zu tun. Sie kostet kein Geld - 1 ½ Stunden in 8 Wochen ist auch kein allzu großes zeitliches Investment, dennoch müsste dies von der Krankenkasse als Anreiz bezahlt werden. Die Gruppenangebote der Alzheimergesellschaft sind zahlreich. Qualifizierte Pflegedienste sind in der Lage, mit Hilfe des § 45 SGB XI neue niederschwellige Angebote zu schaffen und Hausärzte sind dazu geeignet, in ihrer Region motivierend, koordinierend, kommunizierend zum Gelingen beizutragen. Voraussetzung dabei ist, wie im Gesundheitssystem überhaupt, eine klare Aufgabenverteilung und klare Kommunikationsformen. So werden sich im Verlaufe der Zeit Schnittstellen herausbilden, die unproblematisch sind und doch immer wieder neu der Definition bedürfen.
Einen Gedanken möchte ich noch anschließen: In Bremen wurde vor 3 Monaten der erste Emmissions-Computertomograph in einer Röntgenpraxis in Betrieb genommen, d.h. es wird nur noch Monate bis wenige Jahre dauern, bis wir zahlreiche Patienten entdeckt haben werden mit einem Alzheimer-Prozess im Frühststadium. Diese Menschen werden nicht mehr nur im Mittel 7 ¼ Jahren mit dem dementiven Prozess umgehen müssen, sondern mindestens die doppelte Zeit. Ich meine, dass es ein Gebot der Ethik, aber auch ganz schlicht der Politik und der Selbstverwaltung ist, gemeindenahe Strukturen zu fördern, die diesen Menschen mit ihrem Damoklesschwert im Nacken eine neue soziale Integration ermöglichen.
Wir haben uns deshalb ein erweitertes Konzept geschaffen, ein Konzept, das nicht nur betreut, sondern das ältere und jüngere Menschen gleichermaßen einbezieht in eine Veränderung des sozialen Lebens von Familien und zu einem neuen, mehrere Generationen übergreifenden Miteinander in unseren Gemeinden beiträgt, getragen von Respekt für den anderen, von Toleranz für das Anderssein und von der Bereitschaft zur Solidarität untereinander, ein Mix aus professioneller, semiprofessioneller, angeleiteter Hilfe, sowie vernetzenden Projekten mit Laien, die Spaß machen, Bestätigung und vielleicht eine kleine finanzielle Anerkennung bringen – und in denen unsere rechtzeitig erkannten Patienten und ihre Angehörigen einen Platz finden.
Dies ist nur zu erreichen, wenn krank und gesund, alt und jung, arm und reich, runter von ihren Parzellen kommen und zu wirklich gemeinsamem Tun veranlasst werden.
Dazu brauchen wir einen Ort, an dem
- neue soziale Netze geknüpft werden können
- alle Generationen ihren Platz haben und sich selbstverständlich und bisweilen spielerisch begegnen können
- ein gleichberechtigtes Miteinander von gesunden und kranken Menschen möglich ist und
- neue Sicherheiten wachsen können.
Die Erweiterung unserer Konzepte führte geradlinig zum Konzept des Mehr-Generationen-Hauses, wie wir es derzeit ausprobieren.
Anschrift des Verfassers
Dr. med. Eberhard Hesse
Facharzt für Allgemeinmedizin
Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin an der Universität Münster
Bahnhofstraße 27
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Tel: 0421 89888 12
Fax: 0421 808801
E-Mail: Sturm.Hesse(at)t-online.de
Literatur beim Verfasser