Gesundheit und Körper - Salutogenese und Somatisierung
1. Die Epidemie der „somatoformen Störung“
Unerwünschte Nebenwirkungen können nicht nur bei Arzneimitteln auftreten. Auch die Gewohnheit, körperliche Beschwerden als Zeichen einer Erkrankung zu betrachten, zeigt seine unerwünschten Wirkungen bei einer besonderen Gruppe von Patienten. Gemeint sind Menschen mit körperlichen Missempfindungen, Beschwerden, Gebrechen, die keinen spezifischen Erkrankungen zugeordnet werden können. Nicht selten werden Patienten über Jahre durch verschiedenste diagnostische und fachärztliche Mühlen geschickt oder lassen sich schicken, um immer wieder mit der Diagnose „organisch gesund“ konfrontiert zu werden, oder aber um geringfügigen Veränderungen in diagnostischen Befunden hinsichtlich ihrer Pathologie ernorme Bedeutung zuzuschreiben. Letzteres kann als Versuch aufgefasst werden, für körperlich-leidvolle Phänomene eine medizinische Erklärung zu finden in einer säkularisierten Welt, in der die Medizin den umfassendsten Deutungsanspruch auf menschliches physisches und psychisches Leid erhebt und auch zugesprochen bekommt.
Organmedizinische Deutung der Beschwerden belastet Arzt-Patienten-Beziehung
Durch Virchows Theorie der Zellularpathologie, die besagt, dass Krankheiten auf Störungen der Körperzellen basieren, haben wir gelernt, für die Ursache der Beschwerden unserer Patienten nach Störungen der Körperzellen bzw. ihrer Funktionen zu suchen. Gleichermaßen hat sich auch in der Auffassung vieler Patienten eine organmedizinische Überzeugung für ihre Beschwerden etabliert. Eine dermaßen in Aus- und Weiterbildung sozialisierte ärztliche Haltung zielt bei körperlichen Beschwerden zunächst auf eine organische Ursachensuche ab und trifft auf eine entsprechende Erwartungshaltung von Patientenseite. Gelangen wir allerdings in unserer Suche nach organmedizinischen Deutungen der Beschwerden zu keinen überzeugenden und plausiblen Erklärungen, erfolgt nicht selten nachgeordnet eine seelische Ursachenforschung, oft erst im Anschluss an langwierige organische Ausschlussdiagnostik. Bis zu diesem Zeitpunkt kommt es bei einem Teil unserer Patienten zu Fixierungen und Beharrlichkeiten in der subjektiven Ursachenüberzeugung einer organischen Erkrankung. Das Ausbleiben einer organmedizinischen Erklärung für die Beschwerden belastet dann die Arzt-Patienten-Beziehung nicht unerheblich.
Der Begriff "Somatoforme Störungen" wurde 1980 in die offiziellen Klassifikationssysteme eingeführt (ICD 10, Kapitel F45). Traditionelle Bezeichnungen für Krankheitsbilder aus diesen Kategorien sind z.B. psychogene Störungen, funktionelle Störungen, vegetative Dystonie, allgemeines psychosomatisches Syndrom, Konversionshysterie, Briquet-Hysterie, psychische Überlagerung, Neurasthenie. Enge Beziehungen zu den somatoformen Störungen werden auch dem Chronic Fatigue Syndrom, der Fibromyalgie, dem Irritable Bowel Syndrom und dem Multiple Chemical Sensitivity Syndrom zugeschrieben. Gemeinsam ist die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome, ohne plausible organische Ursache meist in Verbindung mit hartnäckig vorgetragenen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen.
Somatisierung wird definiert als die „Neigung, körperliche Beschwerden als Antwort auf psychosoziale Belastungen zu erfahren und zu vermitteln, und medizinische Hilfe dafür in Anspruch zu nehmen“ (1). Die meist körperlichen Beschwerden werden unterschiedlich lokalisiert und können von Patienten auf alle Organsysteme bezogen werden. Am häufigsten werden Schmerzen und Allgemeinsymptome, wie Müdigkeit und Erschöpfung, berichtet (http: //www.uni-duesseldorf.de/ WWW/AWMF/ll/051-001. htm). Die Fokussierung auf körperliche Symptome dient dazu, psychosoziale Probleme zu verleugnen (2). Nach der Definition des ICD-10 ist für somatoforme Störungen (F45) die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome charakteristisch – meist in Verbindung mit hartnäckig vorgetragenen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen, obgleich medizinische Untersuchungen wiederholt negativ waren und ärztlicherseits versichert worden war, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind.
Häufig belastende Lebensereignisse ohne emotionales Erleben
Patienten mit somatoformen Störungen weisen in einem hohen Maß depressive bzw. Angstbeschwerden und –störungen auf, aber auch Persönlichkeitsstörungen. Die psychischen Beschwerden stehen jedoch nicht im Vordergrund des Krankheitserlebens. Auffallend ist dabei, dass Patienten mit somatoformen Störungen häufig belastende Lebensereignisse ohne das dazugehörige emotionale Belastungserleben benennen, jedoch aus Beobachtersicht ihre emotionale Belastung in Form von Körperbeschwerden anzeigen.
Fallbeispiel:
Herr F, 52 jähriger Patient, wird mehrfach notfallmäßig mit starken Herzbeschwerden unter dem Verdacht eines Herzinfarktes mit der Feuerwehr auf einer Rettungsstelle eingeliefert, ohne dass der Verdacht bestätigt werden kann. Ein Jahr zuvor hatte sich ein Freund das Leben genommen in der Wohnung des Patienten. Er fand ihn nach Rückkehr tot aus dem Urlaub vor. Die Schilderungen darüber wirken emotionslos, während sich bei mir in der Gegenübertragung Schrecken und Entsetzten abbildet. Erzählungen von nächtlichen Träumen, die um nationalsozialistische männliche Größenphantasien handeln, machen die abgespaltenen Gefühle deutlich, die aufgrund nationalsozialistischer männlicher Größenphantasien nicht erlebt werden dürfen. Verständlich und bearbeitbar wird die Affektisolation erst durch die transgenerationale Weitergabe von Traumata, die von den Eltern und Großeltern während des ersten und zweiten Weltkrieges erlebt worden waren und deren Erzählungen und Tabuisierungen die Kindheit des Patienten geprägt haben.
Überzeugt von der körperlichen Ursache der Beschwerden
Der Patient ist gewöhnlich von einer körperlichen Ursache seiner Beschwerden überzeugt und widersetzt sich den Versuchen, die Möglichkeit einer psychischen Ursache zu diskutieren - und zwar auch dann, wenn Beginn und Fortdauer der Symptome für den Beobachter eine enge Beziehung zu belastenden Lebensereignissen, Schwierigkeiten oder Konflikten aufweisen.
Bei der körperlichen Untersuchung werden auch Gefühle übertragen, die diagnostisch und therapeutisch genutzt werden können (Foto: aus Berger, John Geschichte eines Landarztes, Carl Hanser Verlag, München 1998; Original: „A Fortunate man. The story of a Country Doctor“ 1967)Epidemiologisch geht man heute davon aus, dass in Deutschland 12,3% der Bevölkerung in ihrem Leben eine solche Erkrankung entwickeln (3,4) Es wird geschätzt, dass etwa 20-40 % der Patienten, die einen Hausarzt aufsuchen, an einer somatoformen Störung leiden (5). Frauen sind insgesamt häufiger betroffen mit Ausnahme Hypochondrie mit etwa gleicher Geschlechtsverteilung (6). Patienten mit somatoformen Störungen gelten traditionell als schwierig beim Hausarzt, nicht zuletzt dadurch, dass sie einen immer wieder dazu verführen, eine organische Ursache für die Beschwerden anzunehmen und eine organmedizinische Diagnostik zu veranlassen bzw. immer wieder erneut zu wiederholen.
Letztendlich auf die Einführung des Begriffs der Hysterie durch Freud geht es zurück, dass auch für ausgeprägte körperliche Beschwerden ohne organpathologischen Hintergrund medizinische Krankheiten definierbar geworden sind. Allerdings ergeben sich aus dem traditionellen Verständnis ärztlicher Rolle und Arzt-Patienten-Beziehung einige Probleme und Barrieren, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen.
2. Probleme und Barrieren in der hausärztlichen Versorgung
Normalerweise sind emotionale Zustände ganzheitlicher Natur. Das heißt sie werden gespürt als Emotionen, erlebt als bewusstseinsfähige Vorstellungen, und sie führen in der Regel zu einem bestimmten Verhalten und werden körpernah erlebt. Wenn ich mich beispielsweise über jemanden ärgere, dann sind damit bestimmte Impulse verbunden, was ich nun am liebsten tun würde aus dem Affekt heraus, es führt zu einer Handlung und oftmals spüre ich es körperlich in der Form, dass mein Herz schneller schlägt oder der Ärger auf den Magen schlägt.
Bei der körperlichen Untersuchung werden auch Gefühle übertragen, die diagnostisch und therapeutisch genutzt werden können
(Foto: aus Berger, John Geschichte eines Landarztes, Carl Hanser Verlag, München 1998; Original: „A Fortunate man. The story of a Country Doctor“ 1967)
Es ist aber auch denkbar, dass Menschen belastende seelische Ereignisse erleben ohne diese ganzheitliche Affektreaktion. Dann können starke Körpersymptome als Affektäquivalente, als „Sprachersatz“, aufgefasst werden, die von den Betroffenen nicht in den Kontext von belastenden seelischen Ereignissen gestellt werden können. Ein auf organpathologische Ursachenforschung ausgerichtetes medizinisches Vorgehen wird die Abspaltung des verdrängten Affektes nun eher verstärken als aufheben.
Fallbeispiel:
Frau K, 42 jährig, sucht hausärztliche Betreuung und homöopathische Behandlung bei unspezifischen Beschwerden des Kopfes, Rückens und der Zähne; auffallend ist eine von Seiten der Patientin als sehr idealisierend gestalteten Arzt-Patienten-Beziehung. Nach einer als sehr ambivalent erlebten Vorsorgeuntersuchung durch eine Gynäkologin wird ein Portiocarcinom diagnostiziert. Eine Hysterektomie wird notwendig. Dabei kommen - in der Gegenübertragung bereits zuvor aufgrund einer als sehr schamhaft erlebten körperlichen Untersuchung vermutet - Erinnerungen bei der Patientin hoch an einen über mehrere Jahre gehenden sexuellen Missbrauch in der Kindheit durch den bislang sehr idealisierten Großvater. Durch diese Erinnerungen kommen starke Schuld- und Schamgefühle sowie autoagressive Impulse bei der Patientin hoch, die eine psychotherapeutische Behandlung nötig macht (Detaillierte Darstellung des Falles s. Herrmann (2006), 18
Emotionale Abspaltung durch die medizinische Profession
Auch tradierte ärztliche Haltungen und Einstellungen, die sich aus verschiedenen professionellen Verpflichtungen heraus ergeben, scheinen den Prozess der Abspaltung zu verstärken. Die Forderung nach affektiver Neutralität sieht vor,
dass der Arzt seinem Patienten neutral gegenübertritt. Er sollte sich in seinem Handeln nicht von bestimmten Sympathien oder auch Antipathien beeinflussen lassen. Die Beschränkung auf seine Expertenrolle unter Ausblendung intersubjektiver Aspekte in der ärztlichen Rolle erschweren die emotionalen Deutungsmöglichkeiten der Körperbeschwerden. Die ärztliche funktionale und spezifische medizinische Handlungsweise innerhalb seiner professionellen Grenzen, Krankheiten zu verhüten (Prävention), zu diagnostizieren und zu behandeln. Indem Krankheit als ein medizinischer Tatbestand diagnostiziert wird und damit von der Person des Kranken abgetrennt wird, erklärt der Arzt seinen Patienten für die Krankheit als nicht verantwortlich. Daraus resultiert aber auch für den Patienten die Verpflichtung, kompetente Hilfe in Anspruch zu nehmen und zu kooperieren. Es ergibt sich ferner eine Einschränkung der Rollenverpflichtungen gegenüber Familie und Beruf; d. h. Beeinträchtigung der üblichen Rollenausübung, sowie Einschränkung der Leistungskapazität. Als Konsequenz daraus kommt der Patient in eine passive, arztabhängige Position. Ärztlicher Rat scheint dabei bedeutsamer zu sein als die Wünsche des Patienten.
Abweichendes Patientenverhalten wird zum „Compliance-Problem“.
Ein vom ärztlichen Rat abweichendes Patientenverhalten wird zum „Compliance-Problem“. Compliance repräsentiert die Vorstellung, dass die Genesung und der Therapieerfolg des Patienten, zu der er verpflichtet wird, einseitig beim Patienten liegen. Eigene Impulse des Patienten, die möglicherweise gegenläufig zu den ärztlichen Empfehlungen stehen, werden u. U. geschwächt. Diese Einstellung wurde geprägt durch das bis in die 80er Jahre vorherrschende Modell des „benevolenten Paternalismus“(7), dadurch charakterisiert, dass sich ärztliche Entscheidung und Einmischung auf das empfundene Wohl und das Glücklichsein sowie auf die Bedürfnisse, Interessen oder Werte des anderen beziehen, verbunden mit einer ausgeprägten Asymmetrie der Arzt-Patient-Beziehung (8).
Historisch wird diese Haltung durch die deutsche Besonderheit der Gesundheits- und Sozialpolitik verstärkt: staatlicher Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme war nicht Folge gesellschaftlicher Demokratisierung, sondern hatte vielmehr zeitlich vorausgehend das Ziel, Demokratisierung zu verhindern (9). Diese historischen Wurzeln, die dem Paternalismus nahe stehen, bekräftigen eine passive Konsumentenerwartung in der Patientenrolle und verstärken die Erwartungen als subjektiv Leidender nach einer fürsorglichen, (all)wissenden und gar väterlichen Gestalt, der als Heiler und Helfer auftritt und den Patienten dadurch entlastet, dass ihm wichtige und folgenschwere Entscheidungen abgenommen werden. Dadurch wird allerdings die Entwicklung eines neuen Rollenbildes des kritischen und informierten Patienten, der sich als Koproduzent und Mitentscheider bei Gesundheitsbelangen begreift, erschwert (10,11).
Hinderlich sind sicherlich auch in gewisser Weise die tradierten Institutionen der Sozialversicherungssysteme. In einer Zeit, in der langfristige Erwerbsbiographien immer mehr zur Ausnahme werden, und Unterbrechungen und Einschnitte häufiger werden, nicht nur für beruflich Minderqualifizierte, kann durch Krankheit eine vorübergehende, aber auch längerfristige Absicherung über Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung erreicht werden.
Eine Chronifizierung von Leiden kann dadurch ermöglicht und Selbstheilungskräfte gelähmt werden, wenn einzig noch die (Teil-)Alimentierung über Sozialversicherungssysteme wahrgenommen wird.
3. Patientenzentrierung und Salutogenese
Die Gestaltung einer patientenzentrierten Arzt- Patient- Beziehung im Sinne beispielsweise des Shared Decission Making (SDM, bzw. – PEF = Partizipative Entscheidungsfindung) macht es möglich, dass subjektive Interessen und Bedürfnisse des Patienten, auch wenn diese von der ärztlichen Auffassung abweichen, in gemeinsame Entscheidungen einfließen können.
Das bedeutet beispielsweise, die Auffassungen des Patienten erst einmal anzunehmen, dass er an einer organischen Störung leide, auch wenn daran Zweifel geknüpft sind. Ausschließlich auf die Vorstellungen des Patienten einzugehen, würde allerdings u. U. bedeuten, weitere Diagnostik zu veranlassen und ihn dabei in seiner Aufassung zu bestätigen.
Von daher besteht die Herausforderung gerade darin, aus der ärztlichen Rolle heraus in der Interaktion mit dem Patienten Anstöße zu geben, bisherige Überzeugtheit in Frage zu stellen.
Als zentrale Bestandteile einer informierten Entscheidungsfindung im Sinne des Shared-Desicion-Making Modells (12) werden die Rolle des Patienten in der Entscheidungsfindung, das klinische Problem und die Art der Entscheidung sowie das Pro und Contra von Alternativen diskutiert. Ebenfalls werden die Unsicherheiten, die mit der Entscheidung einhergehen, gemeinsam erwogen und die Präferenz des Patienten exploriert. (13).
Entscheidend ist damit auch, dass die Verantwortung für den Therapieerfolg nicht mehr einseitig beim Patienten liegt, wie es der Compliance-Begriff repräsentiert, vielmehr geht es darum, ein gemeinsam gesetztes Ziel zu erreichen. Hierfür steht der Begriff der Adherence (engl. für Festhalten, Befolgen), was die Umsetzung und Einhaltung der gemeinsam von Patient und Arzt formulierten Ziele meint.
Aus der systemischen, lösungsorientierten Beratungspraxis lassen sich einige wertvolle Ansätze nutzen, gerade bei Menschen, deren Beobachtungsfokus sich auf die Wahrnehmung ihrer körperlichen Beschwerden verengt hat, den Blick wieder stärker zu öffnen. Durch suggestive Techniken wie beispielsweise die Wunderfrage, bei der man den Patienten sich vorstellen lässt: ‚Was wäre anders, wenn das Problem wie durch ein Wunder über Nacht weg wäre?’, und ihn auffordert darüber zu sprechen, woran er die Veränderung erkennen könne. Damit wird angestoßen, das Blickfeld zu öffnen. Auch kann ich den Patienten dazu auffordern, über den Nutzen, das Problem noch zu behalten, nachzusinnen, um ihn in die Position zu bringen, selbst abzuwägen und damit auch die Kontrolle für seine Vorstellungen zu übernehmen. Wenn deutlich geworden ist, welche Vorteile auch eine Symptomatik hat, kann durch sogenannte „Als-ob-Fragen“ mit dem Patienten eruiert werden, inwiefern der bisherige Nutzen eines Symptoms mit weniger Aufwand oder Selbstschädigung erreicht werden kann. „Angenommen Sie hätten nächste Woche kein Kopfweh mehr, wollten aber Ihren Partner weiter zu rücksichtsvollem Verhalten ermuntern, wie wäre das noch möglich?“, könnte eine spezifische Frage lauten, die den Patienten dazu ermuntert, sich und uns Auskunft zu geben über alternative Praktiken mit weniger Selbstschädigung (14).
Ein anderes Modell, weniger suggestiv, als vielmehr kognitiv-verhaltensbezogen orientiert stellt das Transtheoretische Modell von Prochaska und DiClemente dar (15, 16). Das Transtheoretische Modell (TTM) ist ein Konzept zur Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung von intentionalen Verhaltensänderungen und ist adaptiert auf verschiedene Gesundheitsverhaltensweisen wie z. B. Tabakrauchen, Alkoholkonsum, Ernährung, körperliche Bewegung/Sporttreiben. Über mehrere Schritte sollen Veränderungsprozesse („Processes of Change“) initiiert werden, definiert als Aktivitäten und Ereignisse, die ein problematisches Verhalten und damit zusammenhängende Kognitionen und Emotionen beeinflussen und verändern können (s. Abb. 1).
Die Veränderungsprozesse ermöglichen und fördern das Durchlaufen der Stadien der Änderungsbereitschaft, d. h. sie beschreiben, wie Personen von einem Stadium in das nächste fortschreiten. Ziel ist es, die Selbstwirksamkeitserwartung des Patienten zu stärken, damit auch in schwierigen Situationen die Zuversicht bestehen kann, ein erwünschtes Verhalten ausüben zu können.
Beziehungsorientierter Ansatz, seelische Not in den Dialog zu bringen
Ein beziehungsorientierter, intersubjektiver Ansatz, der als salutogen anzusehen ist, geht auf Michael Balint zurück und hebt auf der Einzigartigkeit und Besonderheit der Arzt-Patient-Beziehung ab. Im Zuge von Individualisierung und Verlust von intim verflochtenen Bindungen, hat der einzelne kaum noch jemanden, „an den er sich um Rat, um Trost oder auch nur um eine erleichternde Aussprache wenden kann. Er ist mehr und mehr auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen.
(…) Nun wissen wir, dass bei vielen Menschen, vielleicht bei uns allen, jeder seelische oder affektive Spannungszustand von vielfältigen körperlichen Erscheinungen entweder begleitet wird oder sich regelrecht in ihnen ausdrückt. In solchen Notzuständen wachsender Spannung findet der betreffende Mensch dann mitunter den Weg zu seinem Arzt, um zu klagen. (…) Aber gerade in diesem Augenblick, in dieser ersten, noch "unorganisierten" Phase einer Krankheit kann die Kunst des Arztes, sich selbst zu verschreiben, von entscheidender Bedeutung sein“ (Balint 1976, 17).
Damit aber gewinnt die vertrauensvolle und tragfähige hausärztliche Beziehung an wachsender Bedeutung gerade auch als salutogene Ressource. Ebenfalls auf Balint geht zurück, dass einige Patienten dem Arzt in einem bestimmten Stadium der Erkrankung „verschiedene Krankheiten anbieten oder vorschlagen und gegebenenfalls so lange neue Krankheiten zur Auswahl anbringen, bis zwischen ihnen und dem Arzt Übereinstimmung erzielt ist, d.h. beide eine der Krankheiten als begründet anerkennen“ (Balint 1976). Eine beziehungsorientierte, kontinuierliche hausärztlich/psychotherapeutische Behandlung unter Einbeziehung der verschiedenen Funktionen und Rollen, wie Balint sie bereits angedeutet hat, eröffnet die Möglichkeit, dass eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut wird, in der die seelische Not entfaltet und verstehbar wird. Dies erscheint mir sowohl diagnostisch wichtig für die biopsychosoziale Analyse der Beschwerden und Klagen des Patienten als auch therapeutisch fruchtbar, um die innere seelische Not in Beziehung bringen zu können. Die „Verschreibung der Droge Arzt“ - man könnte es als hausärztliche Hermeneutik durch Beziehungsgestaltung bezeichnen – kann durch diesen besonderen Charakter erst die verborgenen Pathologien und Entbehrungen aufdecken, gerade bei Patienten, die von sich aus einer fachpsychotherapeutischen Behandlung ablehnend gegenüber stehen. Bei erfolgreicher Durcharbeitung der als Wiederholung auftretenden schwierigen Gefühle und Impulse in der Arzt-Patienten-Beziehung können korrigierende und heilsame Erfahrungen möglich werden. Es bedarf allerdings dabei auch einer intensiven Bearbeitung der bei einem selbst in der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung auftretenden Gefühle und Impulse. Auch, oder vielleicht gerade gut gemeinte diagnostische und therapeutische Interventionen sollten vor ihrer Umsetzung kritisch reflektiert werden vor dem Hintergrund der konkreten Arzt-Patienten-Beziehung, und gegebenenfalls durch Supervision oder Balintgruppenarbeit überprüft werden.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass alle drei Ansätze die ärztliche Rolle deutlich anders verstehen als traditionelle Auffassungen. Der Arzt wird mehr zum Partner oder Coach, der den Patienten stärker selber handeln lässt und ihn dabei unterstützt, oder wie Grüninger in ‚Risiko als Chance’ (1996) formuliert: „In der Teamarbeit mit dem Patienten ist der Arzt nicht mehr der Star und Spielmacher, der sich abrackert, sondern eher der Coach, der den Patienten die Tore selber schießen lässt.
Literatur
1) Lipowski ZJ (1988) Somatization: the concept and its clinical application. American Journal of Psychiatry 145: 1358-1368
2) Baß C, Benjamin S. (1993); The management of chronic somatisation 1993 The British Journal of Psychiatry 162: 472-480
3) Wittchen, H.-U., Nelson, G. B., & Lachner, G. (1998). Prevalence of mental disorders and psychosocial impairments in adolescents and young adults. Psychological Medicine, 28, 109-126.
4) Meyer C, Rumpf H.-J., Hapke U, Dilling H, John U (2000): Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung, Ergebnisse der TACOS-Studie; Der Nervenarzt, Vol. 71, Nr. 7
5) Simon GF, von Korff MR (1991): Somatization and psychiatric disorders in the NIMH Epidemiological Catchment Area (ECA) Study; Am J Psychiatry, 1991, 1494-500
6) Egle UT, Nickel R (2003): Somatoforme Schmerzstörung, In: Egle UT, Hoffmann, Sven Olaf / Lehmann, Klaus A. / Nix, Wilfred A. (Hrsg.): Handbuch Chronischer Schmerz - Grundlagen, Pathogenese, Klinik und Therapie aus bio-psycho-sozialer Sicht; S. 555-562. Schattauer, Stuttgart
7) Dworkin G. (1992): Paternalism. In: Becker L, Becker C (eds). Encyclopedia of Ethics, Vol. II Garland Publishing, London , S. 122-128.
8) Parsons T. (1951): The Social system. The Free Press, New York.
9) Rosenbrock R, Gerlinger T. (2004): Gesundheitspolitik – Eine systematische Einführung. Bern, Hans Huber.
10) Gerteis M. (1993): What patients really want. HMQ; 3: 2-6.
11) Siegrist J. (1995): Medizinische Soziologie, 5. Aufl. München: Urban & Schwarzenberg
12) Charles C, Gafni A, Whelan TJ. (1999): Decision-making in the physician-patient encounter: revisting the shared treatment decision-making model. Social Science and Medicine; 49: 651-661.
13) Bradock CH, Edwards KA, Haenberg NM, Laidley TL, Levinson W (1999): Informed decision making in out-patient practice: time to get bacj to basics JAMA; 282: 2313-2320.
14) de Shazer S. (1999): Der Dreh – Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie.; Carl-Auer-Systeme, Heidelberg
15) Prochaska JO, Velicer WF, DiClemente CC, Fava J. (1988) : Measuring processes of change: applications to the cessation of smoking. J Consult Clin Psychol. 56 (4):520-8.
16) Prochaska JO, DiClemente CC, Norcoss JC (1992): In search of how people change. Am Psychol; 47: 1102-1114
17) Balint, Michael (1976): Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Stuttgart: Klett-Cotta
18) Herrmann, M.( 2006): Der Hausarzt, sein Patient und die unspezifischen Beschwerden - Erkenntnis durch Beziehungsarbeit; ZFA - Zeitschrift für Allgemeinmedizin, Heft 05, Jahrgang 82
Allgemeine Empfehlungen zur therapeutischen Haltung bei Patienten mit somatoformen Störungen:
- Ärztliche Haltung ("Klage entgegennehmen") und ausführliche Anamnese der Beschwerden signalisiert, dass Beschwerden ernst genommen werden.
- Vermeiden nicht streng indizierter apparativer diagnostischer Prozeduren, auch wenn der Patient darauf drängt (cave Selbstschädigung); Verhinderung weiterer Chronifizierung und somatischer Fixierung.
- Kritische Bewertung von somatischen Bagatell- und Zufallsbefunden.
- Aufstellen und Durchsprechen eines zeitlich und bezüglich der Therapiemaßnahmen gestuften Behandlungsplans.
- Entkopplung von Kontaktangeboten und Beschwerdeintensität (zeitkontingente statt beschwerdekontingente Termine).
- Statt ausschließlicher Mitteilung negativer organischer Befunde ('Sie sind organisch gesund'), Angebot eines interaktiven Erklärungsmodells der Beschwerdeentstehung (z.B. Rückenschmerzentstehung durch anhaltende muskuläre Verspannungen aufgrund chronischer psychischer Anspannung).
- Beginnende Erweiterung der organischen Kausalattribution zu einem psychosomatischen Krankheitsverständnis.
- Interventionen veranlassen nur im Kontext zu psychosozialen Aspekten und angemessen dem Krankheitsverständnis des Patienten.
- ggf. Motivierung zur Überweisung in Fachpsychotherapie.
- Begleitung bei eingetretener Chronifizierung.
- Aktive Unterstützung der sozialen Reintegration.
- Pharmakotherapie bei spezifischer Indikation zur Linderung psychischer Symptome und von Schmerzen, nicht zur Behandlung "des Herzens" oder "des Rückens„.
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. Markus Herrmann MPH, M.A.
Allgemeinarzt, Soziologe und Gesundheitswissenschaftler
Zusatzweiterbildung in tiefenpsychologischer Psychotherapie und klassischer Homöopathie
Seit 1999 niedergelassen in eigener kassenärztlicher Praxis in Berlin-Tempelhof und seit März 2005 Universitätsprofessor und zusammen mit Prof. T. Lichte Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Magdeburg; wissenschaftliche Arbeit zu Arzt-Patient-Beziehung, Prävention, Risikokommunikation und Versorgungsforschung.
