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Gesundheit und Körper - Salutogenese und Somatisierung

1. Die Epidemie der „somatoformen Störung“

Markus Herrmann

Unerwünschte Neben­wir­kun­gen können nicht nur bei Arznei­mitteln auftreten. Auch die Gewohnheit, körperliche  Be­schwer­den als Zeichen einer Erkrankung zu be­trach­ten, zeigt seine un­er­wünschten Wirkungen bei einer besonderen Gruppe von Patienten. Gemeint sind Men­schen mit körperlichen Miss­empfindungen, Be­schwer­den, Ge­brechen, die keinen spezifi­schen Erkrankungen zugeordnet werden können. Nicht selten werden Patienten über Jahre durch ver­schie­denste diagnosti­sche und fachärztliche Mühlen ge­schickt oder lassen sich schicken, um immer wieder mit der Diagnose „organisch gesund“ konfrontiert zu werden, oder aber um geringfügigen Ver­änderungen in diagnostischen Befunden hinsichtlich ihrer Pathologie ernorme Bedeutung zuzu­schrei­ben. Letzteres kann als Versuch aufgefasst werden, für körperlich-leidvolle Phäno­me­ne eine medizinische Er­klärung zu finden in einer säkularisierten Welt, in der die Medizin den um­fas­sendsten Deutungsanspruch auf menschliches physisches und psychisches Leid erhebt und auch zugesprochen be­kommt.

Organmedizinische Deu­tung der Be­schwer­den belastet Arzt-Pa­tienten-Beziehung

Durch Virchows Theorie der Zellularpathologie, die besagt, dass Krankheiten auf Stö­run­gen der Körperzellen ba­sie­ren, haben wir gelernt, für die Ursache der Beschwerden un­se­rer Patienten nach Stö­run­gen der Körperzellen bzw. ihrer Funktionen zu suchen. Gleichermaßen hat sich auch in der Auffassung vieler Patienten eine organ­medi­zi­nische Über­zeugung für ihre Beschwerden etabliert. Eine dermaßen in Aus- und Weiter­bildung sozialisierte ärztliche Haltung zielt bei körperlichen Beschwerden zu­nächst auf eine organische Ursachen­suche ab und trifft auf eine entsprechende Erwartungs­haltung von Patientenseite. Gelangen wir allerdings in unserer Suche nach organ­medizinischen Deutungen der Beschwerden zu keinen über­zeu­genden und plausib­len Er­klä­rungen, erfolgt nicht selten nachgeordnet eine seelische Ursachenforschung, oft erst im Anschluss an langwierige organische Aus­schlussdiagnostik. Bis zu die­sem Zeitpunkt kommt es bei einem Teil unserer Patienten zu Fixierungen und Be­harr­lich­keiten in der subjektiven Ursachenüberzeugung einer or­ga­nischen Erkrankung. Das Ausbleiben einer organ­me­di­zi­nischen Erklärung für die Beschwerden belastet dann die Arzt-Patienten-Beziehung nicht unerheblich.

Neigung, körperliche Beschwerden als Ant­wort auf psychosoziale Belastungen zu er­fah­ren und zu vermitteln

Der Begriff "Somatoforme Störungen" wurde 1980 in die offiziellen Klassi­fi­ka­tions­sy­steme eingeführt (ICD 10, Kapitel F45). Traditionelle Be­zeich­nungen für Krankheits­bilder aus diesen Kategorien sind z.B. psychogene Störun­gen, funktionelle Störungen, vegetative Dystonie, all­ge­meines psychoso­ma­ti­sches Syndrom, Kon­ver­sions­hyste­rie, Briquet-Hysterie, psychi­sche Überlagerung, Neura­sthe­nie. Enge Beziehungen zu den somatoformen Störungen werden auch dem Chronic Fatigue Syndrom, der Fibro­my­algie, dem Irritable Bowel Syndrom und dem Multiple Chemical Sensitivity Syndrom zugeschrieben. Gemeinsam ist die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome, ohne plausible organische Ursache meist in Verbindung mit hartnäckig vorgetragenen For­de­rungen nach medizi­ni­schen Untersuchungen.

Somatisierung wird definiert als die „Neigung, körperliche Beschwerden als Antwort auf psychosoziale Belastungen zu erfahren und zu vermitteln, und medizinische Hilfe dafür in Anspruch zu nehmen“ (1). Die meist körperlichen Be­schwerden werden unter­schiedlich lokalisiert und kön­nen von Patienten auf alle Organsysteme bezogen wer­den. Am häufigsten werden Schmerzen und Allgemein­symptome, wie Müdigkeit und Erschöpfung, berichtet (http: //www.uni-duesseldorf.de/ WWW/AWMF/ll/051-001. htm). Die Fokus­sie­rung auf körperliche Symptome dient dazu, psychosoziale Probleme zu verleugnen (2). Nach der Definition des ICD-10 ist für somatoforme Störungen (F45) die wiederholte Dar­bie­tung körperlicher Symptome charakteristisch – meist in Verbindung mit hartnäckig vorgetragenen Forderungen nach medizinischen Unter­suchungen, obgleich medi­zi­nische Untersuchungen wie­der­holt negativ waren und ärztlicherseits versichert wor­den war, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind.

Häufig belastende Le­benser­eig­nisse ohne emotionales Erleben

Patienten mit somatoformen Störungen weisen in einem hohen Maß depressive bzw. Angstbeschwerden und –stö­run­gen auf, aber auch Persönlichkeitsstörungen. Die psychischen Beschwerden ste­hen jedoch nicht im Vordergrund des Krankheits­erlebens. Auffallend ist dabei, dass Patienten mit somato­formen Störungen häufig belastende Lebensereignisse ohne das dazugehörige emotionale Belastungserleben benennen, jedoch aus Be­obachtersicht ihre emotionale Belastung in Form von Körperbeschwerden anzeigen.

Fallbeispiel:

Herr F, 52 jähriger Patient, wird mehrfach notfallmäßig mit starken Herzbeschwerden unter dem Verdacht eines Herzinfarktes mit der Feuerwehr auf einer Rettungsstelle eingeliefert, ohne dass der Verdacht bestätigt werden kann. Ein Jahr zuvor hatte sich ein Freund das Leben genommen in der Wohnung des Patienten. Er fand ihn nach Rückkehr tot aus dem Urlaub vor. Die Schilderungen darüber wirken emotionslos, während sich bei mir in der Gegenübertragung Schrecken und Entsetzten abbildet. Erzählungen von nächtlichen Träumen, die um nationalsozialistische männliche Größenphantasien handeln, machen die abgespaltenen Gefühle deutlich, die aufgrund  nationalsozialistischer männlicher Größenphantasien nicht erlebt werden dürfen. Verständlich und bearbeitbar wird die Affektisolation erst durch die transgenerationale Weitergabe von Traumata, die von den Eltern und Großeltern während des ersten und zweiten Weltkrieges erlebt worden waren und deren Erzählungen und Tabuisierungen die Kindheit des Patienten geprägt haben.

Überzeugt von der körperlichen Ursache der Beschwerden

Der Patient ist gewöhnlich von einer körperlichen Ur­sa­che seiner Beschwerden über­zeugt und widersetzt sich den Versuchen, die Möglichkeit einer psychischen Ursache zu diskutieren - und zwar auch dann, wenn Beginn und Fort­dauer der Symptome für den Beobachter eine enge Be­zie­hung zu belastenden Lebens­ereignissen, Schwierigkeiten oder Konflikten aufweisen.

Bei der körperlichen Untersuchung werden auch Gefühle übertragen, die diagnostisch und therapeutisch genutzt werden können (Foto: aus Berger, John Geschichte eines Landarztes, Carl Hanser Verlag, München 1998; Original: „A Fortunate man. The story of a Country Doctor“ 1967)Epidemiologisch geht man heute davon aus, dass in Deutschland 12,3% der Be­völkerung in ihrem Leben eine solche Erkrankung entwickeln (3,4) Es wird geschätzt, dass etwa 20-40 % der Patienten, die einen Hausarzt aufsuchen, an einer somatoformen Stö­rung leiden (5). Frauen sind insgesamt häufiger betroffen mit Ausnahme  Hypochondrie mit etwa gleicher Ge­schlechts­verteilung  (6). Pa­tien­ten mit somatoformen Störungen gelten traditionell als schwierig beim Hausarzt, nicht zuletzt dadurch, dass sie einen immer wieder dazu verführen, eine organische Ursache für die Beschwerden anzunehmen und eine or­gan­medizinische Diagnostik zu veranlassen bzw. immer wieder erneut zu wiederholen.

Letztendlich auf die Ein­führung des Begriffs der Hysterie durch Freud geht es zurück, dass auch für ausgeprägte körperliche Be­schwer­den ohne organ­patho­logischen Hintergrund medizi­nische Krankheiten de­fi­nier­bar geworden sind. Allerdings ergeben sich aus dem tra­di­tionellen Verständnis ärztli­cher Rolle und Arzt-Patienten-Beziehung einige Probleme und Barrieren, die im Fol­genden aufgezeigt werden sollen.

2. Probleme und Barrieren in der hausärztlichen Versorgung

Normalerweise sind emo­tio­nale Zustände ganzheitlicher Natur. Das heißt sie werden gespürt als Emotionen, erlebt als bewusstseinsfähige Vor­stel­lungen, und sie führen in der Regel zu einem be­stimmten Verhalten und wer­den körpernah erlebt. Wenn ich mich beispielsweise über jemanden ärgere, dann sind damit bestimmte Impulse verbunden, was ich nun am liebsten tun würde aus dem Affekt heraus, es führt zu einer Handlung und oftmals spüre ich es körperlich in der Form, dass mein Herz schneller schlägt oder der Ärger auf den Magen schlägt.

Bei der körperlichen Untersuchung werden auch Gefühle übertragen, die diagnostisch und therapeutisch genutzt werden können

(Foto: aus Berger, John Geschichte eines Landarztes, Carl Hanser Verlag, München 1998; Original: „A Fortunate man. The story of a Country Doctor“ 1967)

Es ist aber auch denkbar, dass Menschen belastende seelische Ereignisse erleben ohne diese ganzheitliche Affektreaktion. Dann können starke Körpersymptome als Affektäquivalente, als „Sprach­ersatz“, aufgefasst werden, die von den Be­troffenen nicht in den Kontext von belastenden seelischen Ereignissen gestellt werden können. Ein auf organ­patho­lo­gische Ursachenforschung aus­gerichtetes medizinisches Vorgehen wird die Abspaltung des verdrängten Affektes nun eher verstärken als aufheben.

Fallbeispiel:

Frau K, 42 jährig, sucht hausärztliche Betreuung und homöopathische Behandlung bei unspezifischen Beschwerden des Kopfes, Rückens und der Zähne; auffallend ist eine von Seiten der Patientin als sehr idealisierend gestalteten Arzt-Patienten-Bezie­hung. Nach einer als sehr ambivalent erlebten Vorsorge­untersuchung durch eine Gynä­kologin wird ein Portio­carcinom diagnostiziert. Eine Hysterekto­mie wird notwendig. Dabei kom­men - in der Gegenüber­tragung bereits zuvor aufgrund einer als sehr schamhaft erlebten körper­lichen Untersuchung ver­mutet - Erinnerungen bei der Patientin hoch an einen über mehrere Jahre gehenden sexuellen Miss­brauch in der Kindheit durch den bislang sehr idealisierten Groß­vater. Durch diese Erinnerungen kommen starke Schuld- und Schamgefühle sowie autoagres­sive Impulse bei der Patientin hoch, die eine psychothera­peu­tische Behandlung nötig macht (Detaillierte Darstellung des Falles s. Herrmann (2006), 18


Emotionale Abspaltung durch die medizinische Profession

Auch tradierte ärztliche Hal­tungen und Einstellungen, die sich aus verschiedenen pro­fessionellen Ver­pflich­tun­gen heraus ergeben, scheinen den Prozess der Abspaltung zu verstärken. Die Forderung nach affektiver Neutralität sieht vor,
dass der Arzt seinem Patienten neutral gegenübertritt. Er sollte sich in seinem Handeln nicht von bestimmten Sympathien oder auch Antipathien beeinflussen lassen. Die Beschränkung auf seine Expertenrolle unter Ausblendung intersubjektiver Aspekte in der ärztlichen Rolle erschweren die emotio­na­len Deutungsmöglichkeiten der Körperbeschwerden. Die ärztliche funktionale und spe­zi­fische medizinische Hand­lungs­weise innerhalb seiner professionellen Gren­zen, Krank­heiten zu verhüten (Prä­vention), zu diagnostizieren und zu behandeln. Indem Krank­heit als ein medi­zi­nischer Tatbestand diag­no­sti­ziert wird und damit von der Person des Kranken ab­ge­trennt wird, erklärt der Arzt  seinen Patienten für die Krankheit als nicht ver­ant­wortlich. Daraus resultiert aber auch für den Patienten die Verpflichtung, kompetente Hilfe in Anspruch zu nehmen und zu kooperieren. Es ergibt sich ferner eine Ein­schrän­kung der Rollen­ver­pflich­tungen gegenüber Familie und Beruf; d. h. Be­ein­trächtigung der üblichen Rollen­ausübung, sowie Ein­schränkung der Leistungs­kapazität. Als Konsequenz daraus kommt der Patient in eine passive, arztabhängige Position. Ärztlicher Rat scheint dabei bedeutsamer zu sein als die Wünsche des Patienten.

Abweichendes Patientenverhalten wird zum „Compliance-Problem“.

Ein vom ärztlichen Rat abweichendes Patienten­ver­halten wird zum „Compliance-Problem“. Compliance re­prä­sentiert die Vorstellung, dass die Ge­nesung und der Therapieerfolg des Patienten, zu der er verpflichtet wird, einseitig beim Patienten liegen. Eigene Impulse des Patienten, die möglicherweise gegenläufig zu den ärztlichen Empfehlungen stehen,  wer­den u. U. geschwächt. Diese Einstellung wurde geprägt durch das bis in die 80er Jahre vorherrschende Modell des „benevolenten Pater­nalis­mus“(7), dadurch charakteri­siert, dass sich ärztliche Entscheidung und Ein­mi­schung auf das empfundene Wohl und das Glücklichsein sowie auf die Bedürfnisse, Interessen oder Werte des anderen beziehen, verbunden mit einer ausgeprägten Asymmetrie der Arzt-Patient-Beziehung (8).

Historisch wird diese Haltung durch die deutsche Besonderheit der Gesundheits- und Sozialpolitik verstärkt: staatlicher Auf- und Ausbau sozialer Sicherungs­systeme war nicht Folge ge­sellschaftlicher Demokrati­sie­rung, sondern hatte vielmehr zeitlich vorausgehend das Ziel, Demokratisierung zu ver­hin­dern (9). Diese historischen Wurzeln, die dem Pater­nalis­mus nahe stehen, bekräftigen eine passive Kon­su­men­ten­erwartung in der Patienten­rolle und verstärken die Erwartungen als subjektiv Leidender nach einer für­sorg­lichen, (all)wissen­den und gar väterlichen Gestalt, der als Heiler und Helfer auftritt und den Patienten dadurch ent­lastet, dass ihm wichtige und folgenschwere Entschei­dun­gen abgenommen werden. Dadurch wird allerdings die Entwicklung eines neuen Rollenbildes des kritischen und informierten Patienten, der sich als Koproduzent und Mitentscheider bei Gesund­heits­belangen begreift, er­schwert (10,11).

Hinderlich sind sicherlich auch in gewisser Weise die tradierten Institutionen der Sozialversicherungssysteme. In einer Zeit, in der lang­fristige Erwerbsbiographien immer mehr zur Ausnahme werden, und Unter­bre­chun­gen und Einschnitte häufiger werden, nicht nur für beruflich Minderqualifizierte, kann durch Krankheit eine vorübergehende, aber auch längerfristige Absicherung über Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung er­reicht werden.

Eine Chronifi­zie­rung von Leiden kann dadurch ermöglicht und Selbstheilungskräfte gelähmt werden, wenn einzig noch die (Teil-)Alimen­tie­rung über So­zial­versiche­rungs­systeme wahr­genommen wird.

3. Patientenzentrierung und Salutogenese

Die Gestaltung einer pa­tien­tenzentrierten Arzt- Patient- Beziehung im Sinne bei­spiels­weise des Shared Decission Making (SDM, bzw. – PEF = Partizipa­tive Entscheidungsfindung)  macht es möglich, dass subjektive Interessen und Bedürfnisse des Patienten, auch wenn diese von der ärztlichen Auffassung ab­wei­chen, in gemeinsame Ent­scheidungen einfließen kön­nen.

Das bedeutet bei­spiels­weise, die Auffassungen des Patienten erst einmal an­zu­nehmen, dass er an einer organischen Störung leide, auch wenn daran Zweifel geknüpft sind. Ausschließlich auf die Vorstellungen des Patienten einzugehen, würde allerdings u. U. bedeuten, weitere Diagnostik zu ver­anlassen und ihn dabei in seiner Aufassung zu be­stätigen.

Von daher besteht die Herausforderung gerade darin, aus der ärztlichen Rolle heraus in der Interaktion mit dem Patienten Anstöße zu geben, bisherige Über­zeugt­heit in Frage zu stellen.

Als zentrale Bestandteile einer informierten Entscheidungs­findung im Sinne des Shared-Desicion-Making Modells (12) werden die Rolle des Pa­tien­ten in der Entscheidungs­findung, das klinische Pro­blem und die Art der Ent­scheidung sowie das Pro und Contra von Alternativen diskutiert. Ebenfalls werden die Unsicherheiten, die mit der Entscheidung einher­gehen, gemeinsam erwogen und die Präferenz des Patienten exploriert. (13).

Entscheidend ist damit auch, dass die Verantwortung für den Therapieerfolg nicht mehr einseitig beim Patienten liegt, wie es der Compliance-Begriff repräsentiert, vielmehr geht es darum, ein gemeinsam gesetztes Ziel zu erreichen. Hierfür steht der Begriff der Adherence (engl. für Fest­hal­ten, Befolgen), was die Um­setzung und Einhaltung der gemeinsam von Patient und Arzt formulierten Ziele meint.

Systemisch lösungs­orien­tierte Beratungspraxis – ein Konzept, einen ein­ge­schränk­ten Blick wieder zu öffnen

Aus der systemischen, lö­sungs­orientierten Bera­tungs­praxis lassen sich einige wertvolle Ansätze nutzen, gerade bei Menschen, deren Beobachtungsfokus sich auf die Wahrnehmung ihrer körperlichen Beschwerden verengt hat, den Blick wieder stärker zu öffnen. Durch suggestive Techniken wie beispielsweise die Wunder­frage, bei der man den Patienten sich vorstellen lässt: ‚Was wäre anders, wenn das Problem wie durch ein Wunder über Nacht weg wäre?’, und ihn auffordert darüber zu sprechen, woran er die Veränderung erkennen könne. Damit wird ange­stoßen, das Blickfeld zu öffnen. Auch kann ich den Patienten dazu auffordern, über den Nutzen, das Problem noch zu behalten, nachzusinnen, um ihn in die Position zu bringen, selbst abzuwägen und damit auch die Kontrolle für seine Vorstellungen zu über­neh­men. Wenn deutlich geword­en ist, welche Vorteile auch eine Symptomatik hat, kann durch sogenannte „Als-ob-Fragen“ mit dem Patienten eruiert werden, inwiefern der bisherige Nutzen eines Sympt­oms mit weniger Aufwand oder Selbstschädigung er­reicht werden kann. „An­ge­nommen Sie hätten nächste Woche kein Kopfweh mehr, wollten aber Ihren Partner weiter zu rücksichtsvollem Verhalten ermuntern, wie wäre das noch möglich?“, könnte eine spezifische Frage lauten, die den Patienten dazu ermuntert, sich und uns Auskunft zu geben über al­ter­native Praktiken mit weniger Selbstschädigung (14).

Das Transtheoretische Modell  -  ein Konzept zur Be­schrei­bung, Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung von Ver­haltens­änderungen

Ein anderes Modell, weniger suggestiv, als vielmehr kog­ni­tiv-verhaltensbezogen orien­tiert stellt das Trans­theo­re­tische Modell von Prochaska und DiClemente dar (15, 16). Das Transtheoretische Modell (TTM) ist ein Konzept zur Beschreibung, Erklärung, Vor­hersage und Beeinflussung von intentionalen Verhaltens­änderungen und ist adaptiert auf verschiedene Gesund­heits­verhaltensweisen wie z. B. Tabakrauchen, Alkohol­kon­sum, Ernährung, körperli­che Bewegung/Sporttreiben. Über mehrere Schritte sollen Veränderungsprozesse („Pro­cesses of Change“) initiiert werden, definiert als Aktivi­täten und Ereignisse, die ein problematisches Verhalten und damit zusammen­hän­gen­de Kognitionen und Emotionen beeinflussen und verändern können (s. Abb. 1).

Die Ver­änderungsprozesse er­mög­lichen und fördern das Durchlaufen der Stadien der Änderungsbereitschaft, d. h. sie beschreiben, wie Personen von einem Stadium in das nächste fortschreiten. Ziel ist es, die Selbst­wirk­sam­keits­erwartung  des Patienten zu stärken, damit auch  in schwierigen Situationen die Zuversicht bestehen kann, ein erwünschtes Verhalten aus­üben zu können.

Beziehungsorientierter Ansatz, seelische Not in den Dialog zu bringen

Ein beziehungsorientierter, intersubjektiver Ansatz, der als salutogen anzusehen ist, geht auf Michael Balint zurück und hebt auf der Ein­zig­artig­keit und Besonderheit der Arzt-Patient-Beziehung ab. Im Zuge von Individualisierung und Verlust von intim ver­flochtenen Bindungen, hat der einzelne kaum noch jeman­den, „an den er sich um Rat, um Trost oder auch nur um eine erleichternde Aussprache wenden kann. Er ist mehr und mehr auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen.
(…) Nun wissen wir, dass bei vielen Menschen, vielleicht bei uns allen, jeder seelische oder affektive Spannungszustand von vielfältigen körperlichen Erscheinungen entweder be­gleitet wird oder sich regel­recht in ihnen ausdrückt. In solchen Notzuständen wach­sen­der Span­nung findet der betreffende Mensch dann mit­unter den Weg zu seinem Arzt, um zu klagen. (…) Aber gerade in diesem Augenblick, in dieser ersten, noch "unorganisierten" Phase einer Krankheit kann die Kunst des Arztes, sich selbst zu ver­schreiben, von ent­schei­den­der Bedeutung sein“ (Balint 1976, 17).

Damit aber gewinnt die ver­trauensvolle und tragfähige hausärztliche Beziehung an wachsender Bedeutung gerade auch als salutogene Res­source. Ebenfalls auf Balint geht zurück, dass einige Patienten dem Arzt in einem bestimmten Stadium der Erkrankung „verschiedene Krank­heiten anbieten oder vorschlagen und ge­ge­be­nen­falls so lange neue Krank­heiten zur Auswahl an­brin­gen, bis zwischen ihnen und dem Arzt Übereinstimmung erzielt ist, d.h. beide eine der Krankheiten als begründet anerkennen“ (Balint 1976).  Eine be­zie­hungs­orientierte, kon­ti­nu­ier­liche haus­ärzt­lich/psycho­the­ra­peutische Behandlung unter Einbeziehung der ver­schie­denen Funktionen und Rollen, wie Balint sie bereits an­gedeutet hat, eröffnet die Mög­lichkeit, dass eine ver­trauens­volle Beziehung aufgebaut wird, in der die seelische Not entfaltet und verstehbar wird. Dies erscheint mir sowohl diagnostisch wichtig für die biopsychosoziale Analyse der Beschwerden und Klagen des Patienten als auch thera­peutisch fruchtbar, um die innere seelische Not in Beziehung bringen zu können. Die „Verschreibung der Droge Arzt“ - man könnte es als hausärztliche Hermeneutik durch Beziehungsgestaltung be­zeich­nen – kann durch diesen besonderen Charakter erst die verborgenen Patho­lo­gien und Entbehrungen auf­decken, gerade bei Patienten, die von sich aus einer fachpsychotherapeutischen Be­handlung ablehnend ge­gen­über stehen. Bei er­folgreicher Durcharbeitung der als Wiederholung auftretenden schwierigen Ge­fühle und Impulse in der Arzt-Patienten-Beziehung können korrigierende und heilsame Erfahrungen möglich werden. Es bedarf allerdings dabei auch einer intensiven Be­ar­beitung der bei einem selbst in der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung auf­tre­tenden Gefühle und Impulse. Auch, oder vielleicht gerade gut gemeinte diagnostische und therapeutische Inter­ventionen sollten vor ihrer Umsetzung kritisch reflektiert werden vor dem Hintergrund der konkreten Arzt-Patienten-Beziehung, und ge­ge­be­nen­falls durch Supervision oder Balintgruppenarbeit überprüft werden.

Abschließend bleibt fest­zu­halten, dass alle drei Ansätze die ärztliche Rolle deutlich anders verstehen als tra­ditionelle Auffassungen. Der Arzt wird mehr zum Partner oder Coach, der den Patienten stärker selber handeln lässt und ihn dabei unterstützt, oder wie Grüninger in ‚Risiko als Chance’ (1996) formuliert: „In der Teamarbeit mit dem Patienten ist der Arzt nicht mehr der Star und Spielmacher, der sich ab­rackert, sondern eher der Coach, der den Patienten die Tore selber schießen lässt.

Literatur

1) Lipowski ZJ (1988) Somatization: the concept and its clinical application. American Journal of Psychiatry 145: 1358-1368

2) Baß C, Benjamin S. (1993); The management of chronic somatisation 1993 The British Journal of Psychiatry 162: 472-480

3) Wittchen, H.-U., Nelson, G. B., & Lachner, G. (1998). Prevalence of mental disorders and psychosocial impairments in adolescents and young adults. Psychological Medicine, 28, 109-126.

4) Meyer C, Rumpf H.-J., Hapke U, Dilling H, John U (2000): Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung,  Ergebnisse der TACOS-Studie; Der NervenarztVol. 71, Nr. 7

5) Simon GF, von Korff MR (1991): Somatization and psychiatric disorders in the NIMH Epidemiological Catchment Area (ECA) Study; Am J Psychiatry, 1991, 1494-500

6) Egle UT,  Nickel R (2003): Somatoforme Schmerzstörung, In:  Egle UT, Hoffmann, Sven Olaf / Lehmann, Klaus A. / Nix, Wilfred A. (Hrsg.): Handbuch Chronischer Schmerz - Grundlagen, Pathogenese, Klinik und Therapie aus bio-psycho-sozialer Sicht; S. 555-562. Schattauer, Stuttgart

7) Dworkin G. (1992): Paternalism. In: Becker L, Becker C (eds). Encyclopedia of Ethics, Vol. II Garland Publishing, London , S. 122-128.

8) Parsons T. (1951): The Social system. The Free Press, New York.

9) Rosenbrock R, Gerlinger T. (2004): Gesundheitspolitik – Eine systematische Einführung. Bern, Hans Huber.

10) Gerteis M. (1993): What patients really want. HMQ; 3: 2-6.

11) Siegrist J. (1995): Medizinische Soziologie, 5. Aufl. München: Urban & Schwarzenberg

12) Charles C, Gafni A, Whelan TJ. (1999): Decision-making in the physician-patient encounter: revisting the shared treatment decision-making model. Social Science and Medicine; 49: 651-661.

13) Bradock CH, Edwards KA, Haenberg NM, Laidley TL, Levinson W (1999): Informed decision making in out-patient practice: time to get bacj to basics JAMA; 282: 2313-2320.

14) de Shazer S. (1999): Der Dreh – Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie.; Carl-Auer-Systeme, Heidelberg  

15) Prochaska JOVelicer WFDiClemente CCFava J. (1988) : Measuring processes of change: applications to the cessation of smoking. J Consult Clin Psychol. 56 (4):520-8.

16) Prochaska JO, DiClemente CC, Norcoss JC (1992): In search of how people change. Am Psychol; 47: 1102-1114

17) Balint, Michael (1976): Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Stuttgart: Klett-Cotta

18) Herrmann, M.( 2006): Der Hausarzt, sein Patient und die unspezifischen Beschwerden - Erkenntnis durch Beziehungsarbeit; ZFA - Zeitschrift für Allgemeinmedizin, Heft 05, Jahrgang 82

 

Allgemeine Empfehlungen zur therapeutischen Haltung bei Patienten mit somatoformen Störungen:

  • Ärztliche Haltung ("Klage entgegennehmen") und ausführliche Anamnese der Beschwerden signalisiert, dass Beschwerden ernst genommen werden.
  • Vermeiden nicht streng indizierter apparativer diagnostischer Prozeduren, auch wenn der Patient darauf drängt (cave Selbstschädigung); Verhinderung weiterer Chronifizierung und somatischer Fixierung.
  • Kritische Bewertung von somatischen Bagatell- und Zufallsbefunden.
  • Aufstellen und Durchsprechen eines zeitlich und bezüglich der Therapiemaßnahmen gestuften Behandlungsplans.
  • Entkopplung von Kontaktangeboten und Beschwerdeintensität (zeitkontingente statt beschwerdekontingente Termine).
  • Statt ausschließlicher Mitteilung negativer organischer Befunde ('Sie sind organisch gesund'), Angebot eines interaktiven Erklärungsmodells der Beschwerdeentstehung (z.B. Rückenschmerzentstehung durch anhaltende muskuläre Verspannungen aufgrund chronischer psychischer Anspannung).
  • Beginnende Erweiterung der organischen Kausalattribution zu einem psychosomatischen Krankheitsverständnis.
  • Interventionen veranlassen nur im Kontext zu psychosozialen Aspekten und angemessen dem Krankheitsverständnis des Patienten.
  • ggf. Motivierung zur Überweisung in Fachpsychotherapie.
  • Begleitung bei eingetretener Chronifizierung.
  • Aktive Unterstützung der sozialen Reintegration.
  • Pharmakotherapie bei spezifischer Indikation zur Linderung psychischer Symptome und von Schmerzen, nicht zur Behandlung "des Herzens" oder "des Rückens„.

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. Markus Herrmann MPH, M.A.
Allgemeinarzt, Soziologe und Gesundheitswissenschaftler
Zusatzweiterbildung in tiefenpsychologischer Psychotherapie und klassischer Homöopathie

 

Seit 1999 niedergelassen in eigener kassenärztlicher Praxis in Berlin-Tempelhof und seit März 2005 Universitätsprofessor und zusammen mit Prof. T. Lichte Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Magdeburg; wissenschaftliche Arbeit zu Arzt-Patient-Beziehung, Prävention, Risikokommunikation und Versorgungsforschung.