Die Mutation der Kulturen und die bewusste Kultivierung des Individuums
Peter Gottwald
Die folgenden kurzen Anmerkungen schließen an den Überblick „Von der natürlichen Evolution zur bewussten Kultivierung“ an, der in Heft 37/2006 auf S. 6 erschien. Dort wurde auf das epochale Werk „Ursprung und Gegenwart“ des Kulturanthropologen Jean Gebser verwiesen (hier also die notwendige Namenskorrektur). Nach einer langen Reihe kultureller Entwicklungssprünge (magische, mythische, mentale Kultur) sieht Gebser heute eine Integrale Kultur heraufkommen – als eine Möglichkeit, die unserer achtsamen Mitarbeit bedarf (siehe hierzu www.integraleweltsicht.de).
Zur Mutation der Kulturen können hier zur Vertiefung von Gebsers Texten nur einige wenige Hinweise auf die Charakteristika der jeweiligen Kulturen gegeben werden:
Magische Kulturen
so wie sie noch um 1900 auf der Welt existierten, sind gekennzeichnet durch:
- Die Ichlosigkeit des magischen Menschen;
- seine punkthaft-unitäre Welt;
- seine Raum- und Zeitlosigkeit;
- sein Eingeflochtensein in die Natur;
- seine magische (Macht gebende und ihn zum Macher machende) Reaktion auf dieses Eingeflochtensein.
Mythische Kulturen
sind gekennzeichnet durch
- das Gruppen-Gefühl ohne einzelnes Ich;
- eine kreisförmig-polare Welt;
- ein zirkuläres Erleben der „Zeit“ als ewige Wiederkehr des Gleichen;
- ein erstes Gegenübertreten des Menschen, einerseits gegenüber der Natur, sowohl was den Himmel und die Erde (außen) angeht, als auch durch seine „Entdeckung der Seele“ (als einer Innenwelt, nur dem geschlossenen Auge sichtbar).
- Seine Beziehungsgeflechte mit Himmel und Erde kommen in erzählten Mythen zur Anschauung; Opfer sind Teil einer als notwendig empfundenen Reaktion auf diese Beziehungen.
Mentale Kulturen
sind gekennzeichnet durch
- das Hervortreten eines „Ich“;
- eine Welt der Gegensätze, sowie des Kampfes der
„Iche“; - eine gerichtete Auffassung von „Zeit“ als eines Pfeils aus der Vergangenheit in die Zukunft;
- die Aufgabe, die Natur zu beherrschen.
- Wissenschaft und Technik gestalten die Beziehungen unter dem Aspekt von Ziel und Zweckmäßigkeit, dabei sollen Moralsysteme das Verhalten steuern.
Was wir in den letzten 500 Jahren erlebt haben, ist die Ausbreitung der in Europa entwickelten mentalen Kultur auf die ganze Welt – als gewaltsame Unterwerfung und Ausbeutung sog. primitiver Kulturen, deren Erbe verloren ging und heute trotz mancherlei Anstrengungen (amerikanische Indianer, australische Aborigines) nicht wieder belebt werden kann. Nolens volens müssen/können alle Kulturen die Einheit der mentalen Kultur realisieren – durch Erziehung und weitere „Kolonisierung“ wird dieser Prozess vom „Westen“ gesteuert.
Integrale Kultur
ist erst in kleinsten Keimen sichtbar. Sie scheint sich der Zweckhaftigkeit des Mentalen zu widersetzen, obwohl sie diese zu integrieren sucht, ebenso wie sie das lebendige Angesprochensein durch das Magische als auch das Berührtwerden durch das Mythische (in Bildern) zu wahren, d.h. zu integrieren trachtet.
In der Folge sind Gebsers Befunde, seine neue Weltsicht, von anderen Autoren aufgegriffen und gestützt worden. Hier ist heute vor allem der Amerikaner Ken Wilber zu nennen, dessen zahlreichen einschlägigen Werke weltweit stark beachtet werden, auch wenn sie von den Universitäten noch weitgehend ignoriert werden (vgl. www.integral world.net).
Vor allem die Jugend begeistert sich derzeit für diesen Autor, der in seine Sichtweise auch die sog. „Spiral-Entwicklung“ eines Don Beck aufgenommen hat (vgl. www. spiraldynamics.net). Er hat sie (im Anschluss an die Arbeiten des Psychologen C. Graves) als sukzessiv auftretende Wertesysteme menschlicher Kulturen beschrieben und mit einem Farbcode gekennzeichnet:
- Beige: Überlebenskampf kleiner Gruppen
- Violett: erste Kooperation größerer Horden
- Rot: Auftreten kraftvoller Individuen
- Blau: Länder auf der Grundlage von Gesetz und Ordnung
- Orange: Hervortreten machtvoller Individuen
- Grün: Kultur auf der Basis eines neuen Mitgefühls, Mensch und Natur umfassend
- Gelb: Ansätze zu einer Integralen Kultur
Diese Abfolge lässt sich recht gut zu den von Gebser herausgearbeiteten Strukturen in Beziehung setzen.
Wie schon bei dem Satz von Ernst Häckel „Die Ontogenese ist ein Abbild der Phylogenese“; d. h. ebenso wie jeder Mensch im Laufe seiner Entwicklung im Mutterleib Frühstadien der Säugetierentwicklung wiederholt, kann auch in der geistig-kulturellen Entwicklung vermutet werden, dass jedes Individuum, das sich in unsere mentale Kultur hinein entwickelt, in frühen Jahren magisches und mythisches Bewusstsein hervorbringt und durchlebt. Dies lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Psychologie der menschlichen Entwicklung, die diesem Sachverhalt Beachtung zu schenken hätte. Deshalb möchte ich hier auf die Linie hinweisen, die von dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson auf der Grundlage kulturvergleichender Studien gezogen wurde. Erikson entwirft nämlich eine auf das Individuum bezogene lebenslange Entwicklungsaufgabe und -möglichkeit, die sowohl empirische Belege als auch eine gewisse Normativität aufzuweisen hat.
Entstanden als Ergebnis seiner Projekte um 1950 kann sie auch noch heute als eine Richtschnur gelten und genutzt werden, das Potential aller Menschen, vom Säuglingsalter bis zum Greisenalter, zu beschreiben und zur Reife zu bringen. Dabei geht er von acht Phasen aus, die jeweils ein Reifungsziel – und ein Bild des Scheiterns kennen. Ich will sie hier kurz skizzieren – und dabei die jeweiligen „Stufen der Liebe“ hervorheben. Erikson schreibt und skizziert in seinem Buch „Identität und Lebenszyklus“ (Suhrkamp, Frankfurt, 1966):
„Ich kann hier die Einzelheiten nicht anführen (mein Beitrag zum Schema ist kursiv gesetzt), möchte aber ausdrücklich Eriksons Werk auch uns Heutigen ans Herz legen. Es enthält viele gute Möglichkeiten, Hinweise auf beherzigenswerte Zielsetzungen – für unsere Kinder wie für uns selbst – und es ist für alle Kulturen auf unserer Erde bedeutsam, von denen viele in den Sog der Entwicklung zu einem Mentalen Bewusstsein, einem Leben in der wissenschaftlich-technisch geprägten Welt, hineingezogen wurden und noch werden. Es ist auch ein Plädoyer für ein neues und bewusstes „Miteinander“ statt des herrschenden schädlichen Gegeneinanders von Menschen und Kulturen. Von diesem Werk her ist ja auch die Pädagogik nicht einfach eine „Erziehung“ entsprechend bedürftiger Wesen, sondern ein „miteinander Wachsen und Reifen“ in einer kooperativen Haltung wechselseitigen Vertrauens – und der Liebe.
I. Stufe | Ur-Vertrauen gegen Ur-Misstrauen | Orale Sexualität |
II. Stufe | Autonomie gegen Scham und Zweifel | Anale Sexualität |
III: Stufe | Initiative gegen Schuldgefüh | Infantil-genitaler Sex |
IV. Stufe | Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefüh | Latenzzeit |
V. Stufe | Identität gegen Identitätsdiffusion | Pubertät |
VI. Stufe | Intimität gegen Isolierungreife | Genitalität |
VII. Stufe | Generativität gegen Selbstabsorption | <em>Reife Liebe</em> |
VIII. Stufe | Integrität gegen Verzweiflung und Ekel | <em>Umfassendes Mitgefühl</em> |
Allerdings fehlt bei Erikson der Bezug zu dem oben genannten, mit Gebser abgewandelten „Grundgesetz“, wonach die Individualentwicklung die Kulturentwicklung wiederholt. Jetzt müsste man nämlich neben der von Erikson betonte mentalen Entwicklung (Autonomie, Initiative, Werksinn und Identität) noch die frühen Stadien einer durchgehend magischen bzw. mythischen Gestimmtheit des Kleinkindes berücksichtigen. Erst dann würde klar, wie das Kind sich in einer Welt von „Riesen“, von denen einige nährend, andere bedrohlich aktiv sind, ja: von „Zauberern“ und „Wundertätern“, einen Reim zu machen beginnt auf das, was ihm begegnet. Beachtenswert wäre hier vor allem auch die Rolle des schon früh beginnenden Fernsehkonsums, wodurch dem Kinde eine Scheinwelt vor Augen geführt wird, welche wiederum seine Phantasie nährt, aber auch formt.
Adresse des Verfassers

Prof. Dr. med. Peter Gottwald
Hochschullehrer für Psychologie und Anthropologie
Ziegelhof Str. 23
26121 Oldenburg