Evolutionäre Erkenntnistheorie versus objektive Erkenntnis
Dietmar von der Ahe
Seit jeher beschäftigen sich Menschen mit der Frage: Woraus besteht diese Welt? Die alten Griechen sagten: Aus Erde, Wasser, Luft und Feuer. Seit damals haben viele Philosophen darüber nachgedacht: Wie können wir die Wirklichkeit erkennen? Und wie können wir unsere Erkenntnisse in Worte fassen und weitergeben?
Seit Immanuel Kant (1724-1804) wird bis heute über die Grenzen und über „die Bedingungen der Möglichkeit“ menschlicher Erkenntnis heftig gestritten. Auch gegen den Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der 1973 zusammen mit anderen den Nobelpreis erhielt. Er hatte entdeckt, dass sich das menschliche Erkenntnisvermögen im Verlaufe der geistig-kulturellen Evolution besonders in jenen Lebensbereichen gut entwickelt habe, die dem Menschen direkt zugänglich sind, also in der mittleren Dimension. Dagegen benötigt der Mensch ein Fernrohr, um den Makrokosmos zu erforschen oder ein Mikroskop für den Mikrokosmos, um die Welt „objektiv“ zu erkennen.
Elementarteilchen Atome, Moleküle Viren, Bakterien |
Mikrowelt |
Wasser, feste Materie Luft, Atmosphäre Pflanzen, Tiere |
Die sog. „mittlere“ Dimension |
Menschen, Familien Gruppen, Horden Völker, Regionalkulturen |
Die sog. „menschliche“ Dimension |
Menschheit Erdoberfläche, Globus Sonne, Planeten Galaxien, Weltraum |
Makrowelt |
Mit Hilfe immer differenzierter Instrumente wurden über die Makro- und Mikrowelt erstaunliche Erkenntnisse gewonnenen. Sie haben Wissenschaft und Laien so fasziniert, dass die Erforschung und Kultivierung der sog. Mittleren Dimension nicht in dem Umfang erfolgte, wie es dem rasant wachsenden Bedarf entsprochen hätte.
Im Verlauf der Evolution der Wissenschaften wurden die Methoden der Erkenntnisgewinnung immer wieder auf den Prüfstand gestellt. Dabei ging es um die berechtigte Forderung: Intuitive Erfahrung genügt nicht. Um eine objektive Erkenntnis zu erlangen, waren professionelle Spezialisierung, Erkenntniskritik und eine kontinuierliche Qualitätssicherung erforderlich, und es wurde eine strengere Form der Erkenntnistheorie im Sinne einer Wissenschaftstheorie entwickelt. Darin wird allgemein anerkannt: Kein Beobachter ist neutral, sondern er beeinflusst die Ergebnisse auf vielfältige Weise, oft durch „konstruktive Vorurteile“ (Vollmer 1980). Deshalb bleibt es die ständige Aufgabe jeder Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie: Das Bild, das uns die Wissenschaft von Details, aber auch vom Wesen dieser Welt entwirft, sollte sich möglichst weitgehend (asymptotisch) der Wirklichkeit annähern.
Anders ist es im mittleren Bereich. Hier gibt eine unendliche Vielfalt von individuellen und gemeinschaftlichen Lebensstilen, die unbedingt erhalten bleiben sollte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus diesen Gebieten dürfen nur in begrenztem Umfange und mit größter Sensibilität verallgemeinert und auf Maß und Zahl reduziert werden. Denn hier gibt es für Wissenschaft und Forschung sowohl Prioritäten als auch Ausschlusskriterien, über die m. E. noch kein Konsens besteht.
Stegmüller (1984) deutet an, dass es zu einer Versöhnung kommen kann zwischen den Vertretern der objektiven Erkenntnis der Detailwissenschaften und denen, die Einsichten über die sehr komplexen Zusammenhänge in der mittleren Dimension gewonnen haben. Diese haben bei der Erforschung der mittleren und menschlichen Dimension Methoden verwendet, bei denen auch Analogien sowie sog. „weiche“ Daten eine Rolle spielen, z. B. ganzheitliche Be-griffe von Fähigkeiten, Qualitäten oder Ressourcen. Kant bezeichnet sie als „Dinge an sich“, über die synthetische Urteile a priori möglich sind. (s. u.)
Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden:
1. Galileis Fallgesetz wurde zum Ausgangspunkt objektivierender wissenschaftlicher Forschung: Die Ergebnisse der Detailforschung lassen sich jedoch nur dann im Experiment objektivieren und wiederholen, wenn die Randbedingungen ausgeschaltet werden. So fällt z. B. ein Stein bei gleicher Gravitation sehr viel schneller vom schiefen Turm in Pisa als eine Feder. Galileis Fallgesetz gilt also nur, wenn man die Randbedingungen – hier den Luftwiderstand – ausschaltet, wie dies im luftleer gepumpten Turm an der Bremer Universität geschieht.
Im Alltag macht es schon einen Unterschied, ob uns ein Ziegelstein vom Dach oder ein toter Vogel auf den Kopf fällt. Die alltägliche Wirklichkeit (die mittlere Dimension) steckt nämlich voll vernetzter Randbedingungen. Deshalb ist es unmöglich, sie auf Maß und Zahl und Formeln zu reduzieren. Hinzu kommt die oben erwähnte unterschiedliche Situation des Beobachters, die jedes Experiment beeinflusst.
2. In der Medizin gibt es zwei ganz unterschiedliche Forschungsansätze:
Die objektivierende Detailforschung im Mikrobereich arbeitet u. a. mit statistischer Wahrscheinlichkeit und erforscht jene „Konstanten“, die sich bei allen Menschen dieser Welt gleich entwickelt haben: Körpertemperatur, Zusammensetzung des Blutes und ihrer Veränderung bei bestimmten Gesundheitsstörungen, die für jeden Menschen zutreffen. Auch hierbei werden Randbedingungen ausgeschaltet.
Dagegen arbeiten Praxis und Forschung in Psychotherapie, Soziotherapie und Hausarztmedizin mit ganzheitlichen und analogen Ansätzen: Der Fokus dieser Methoden ist auf den individuellen Patienten zentriert:
a) Jeder einzelne Mensch besitzt als Gesamtpersönlichkeit ganz unterschiedliche genetische und erworbene Fähigkeiten und Qualitäten.
b) Jeder einzelne Mensch hat eine individuelle Biographie (vertikal) und lebt in einer ganz besonderen Lebenssituation (horizontal).
Bei dem individualmedizinischen Ansatz dieser o. g. Fächer geht es also nur bedingt um das, was für alle Menschen zutrifft, vielmehr stehen hier im Vordergrund individualtypische Qualitäten und komplexe Situationen, die sich bei allen Menschen unterscheiden, es sind überwiegend Randbedingungen.
Allgemeinverbindliche Therapieempfehlungen sollten also stets auf den einzelnen Kranken adaptiert werden: Mit Hilfe einer Individualdiagnostik erarbeitet der Arzt gemeinsam mit dem Patienten auch in der menschlichen Dimension einen individuellen Therapievorschlag, bei dem er außerdem die gesundheitsfördernden, salutogenen Ressourcen des Patienten berücksichtigt und mobilisiert; denn diese Ressourcen sind ebenfalls in der genannten menschlichen Dimension angesiedelt.
Nun zurück zur theoretischen Auseinandersetzung:
Stegmüller schreibt:
„Durch Einbeziehung von Vorgängen und Phänomenen im menschlichen Bereich insbesondere in der menschlichen Erkenntnissphäre …konnte der Gedanke einer evolutionären Erkenntnistheorie, der auf den Nobelpreisträger Konrad Lorenz zurückgeht, überhaupt erst entstehen.“ (Stegmüller 2002, S.6)
„Wir müssen eine Untersuchung vornehmen: Einmal haben wir die Erkenntnisse als Produkte bestimmter Leistungen, etwa Gedanken, ausgesprochene Sätze oder wissenschaftliche Darstellungen … und zum anderen haben wir die diesen Leistungen zu Grunde liegenden Dispositionen oder Fähigkeiten.“ ….
„Es ist dies eine analoge Unterscheidung, wie man sie z.B. in der Psychologie seit langem macht. Als Beispiel mögen die beiden Worte ,Erinnerung’ und ,Gedächtnis’ dienen. Erinnerung ist ein Phänomen, Gedächtnis eine Disposition. Wenn ich mich in diesem Moment an einen Freund erinnere, der vor 10 Jahren gestorben ist, so kann ich dies introspektiv unmittelbar feststellen. Um herauszubekommen, ob ich ein gutes Zahlengedächtnis habe, muss auch ich selber Untersuchungen anstellen. Denn dieses Gedächtnis betrifft nicht etwas, was in mir hier und jetzt stattfindet, sondern eine Fähigkeit, die sich in bestimmten Reaktionen auf gezielte Fragen manifestiert.“ (a.a.O., 16)
„Somit kann die evolutionäre Erkenntnistheorie selbst dort, wo sie auf Konfrontationskurs geht, eine wertvolle Leistung erbringen …, dass gewisse von ihr attackierte Philosophen nun mit einer kritischeren Einstellung gelesen werden.“ (a.a.O.; 33)
Spaemann ergänzt diese Aussagen auf dem gleichen Symposium:
„Für ein reflektierendes Wesen läuft die Motivation für die Erfüllung über individuelle Funktionen weitgehend nicht über Instinkte, sondern über bewusste Imperative. Damit die Reflektion die Inhalte dieser Imperative nicht ständig zu Gunsten unmittelbarer Triebbefriedigung suspendiert oder relativiert, sind sie mit dem Instinktäquivalent der „Unbedingtheit“ ausgestattet, welche die potentielle Unendlichkeit der relativierenden Reflektion kompensiert.“ (a.a.O.; 81)
(Statt von „Unbedingtheit“ würden wir heute von Einsicht in die „Präferenz primärkultureller Leistung“ sprechen.)
Abschließend schreibt Spaemann:
„Wir stoßen nirgendwo auf so etwas wie Seiendes. Was es gibt, ist nur der Prozess des Werdens. Es gibt nur das Kontinuum dieses Prozesses, keine diskreten Einheiten, die mit sich identisch und von anderen different sind. Die Verwendung ,sortaler’ Ausdrücke bezeichnet nur eine bestimmte Weise, die Wirklichkeit wahrzunehmen.“ (a.a.O.; 90)
Inzwischen hat sich die evolutionäre Erkenntnistheorie in der Nachfolge von Lorenz weiter entwickelt und ist jenem Paradigmenwandel gefolgt, die sich in der Physik vor 100 Jahren vollzogen hat mit Einsteins Relativitätstheorie und Plancks Quantentheorie.
Literatur
Popper K R. (1984) Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf C 1973 Hamburg: Hoffmann & Campe
Riedl R. Evolutionäre Erkenntnistheorie im Spiegel der Wissenschaft. Facultas, Wien 1996
Stegmüller W. (1984) Evolutionäre Erkenntnistheorie, Realismus und Wissenschaftstheorie. In: Spaemann R, Koslowski P, Löw R. Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis. Civitas Bd. 6, Acta humanica Verlag Chemie, Weinh.
Vollmer G. Evolutionäre Erkenntnistheorie. Hirzel, Stuttgart 2002
Wuketits F. Bioethik, Beck, München 2006
Anschrift des Verfassers
Privatdozent Dr. rer. nat. habil. Dietmar von der Ahe
Lohgarten 1
35 043 Marburg – Bauerbach