In der menschlichen Dimension ganzheitlich denken und behandeln
Eckart und Michael Sturm, Ottomar Bahrs
Jeder Mensch denkt, fühlt und handelt „ganzheitlich“ als Individuum (= ungeteilte Persönlichkeit). Wie können nun Berater oder Therapeuten diesen Wunsch ihrer Klienten oder Patienten entsprechen, als ganzer Mensch behandelt zu werden? Es genügt nämlich nicht, die übliche körperliche Betrachtungsweise durch die Psychische und Soziale zu ergänzen. Die Addition von drei Betrachtungsebenen (bio-psycho-sozial) ergibt noch keine Ganzheit, jedoch ihre Integration. So bietet sich ein Zugang zur menschlichen Dimension als nächst höherer Betrachtungsebene auf demselben Weg, wie dies jeder von uns tut im täglichen Umgang miteinander: Wir sprechen vom Charakter eines Menschen und berücksichtigen seine Gefühlswelt, seine Fähigkeiten und Qualitäten.
Aus der menschlichen Dimension interessieren den Arzt die Risikofaktoren eines Patienten, aber auch seine salutogenen Ressourcen, also jene Kräfte und Fähigkeiten, die jeder bisher individuell, unbewusst und bewusst einsetzt, um gesund zu bleiben. Diese und viele andere im Menschen verwirklichten Fähigkeiten bieten einen wissenschaftsfähigen Zugang zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise. Daraus wird man künftig eine ärztliche Diagnostik und Therapie in der menschlichen Dimension entwickeln, die die drei Teilaspekte Körper, Seele und Soziales integriert.
Allgemeines Menschenbild und menschliche Dimension
Die Gefühle, Qualitäten und Fähigkeiten des Menschen machen in ihrer Gesamtheit sein Wesen aus und liefern uns die Möglichkeit zu einer ganzheitlichen Einschätzung.
In der nachfolgenden Tabelle werden beispielhaft typische menschliche Gefühle, Qualitäten und Fähigkeiten und ihre Entwicklung zu komplexeren Kompetenzen aufgeführt:
Die menschliche Dimension vermittelt Hausärzten den Bezugsrahmen bei der diagnostischen Beurteilung des individuellen Patienten und bei der Auswahl einer ganzheitlich ansetzenden Therapieform.
Diagnostische Einschätzung der Persönlichkeit des Patienten
Ärzte, insbesondere Hausärzte könnten diagnostisch feststellen,
- welche menschlichen Qualitäten dem Patienten für die Abwehr oder Bewältigung von Krankheit zur Verfügung stehen und
- wo und wie schwach entwickelte menschliche Fähigkeiten und salutogene Ressourcen des Patienten gefördert oder unterstützt werden könnten, z.B.
- Wie ausgeprägt ist seine Wahrnehmungsfähigkeit,
- seine Fähigkeit zur Verbalisierung,
- sein Vorstellungsvermögen?
- Kann er konsequent Handeln und Empfehlungen umsetzen?
Wege zur Therapie in der menschlichen Dimension
Bereits jetzt sind Hausärzte intuitiv bemüht, Biographie, Skript und Lebensziel in die Therapie zu integrieren; künftig werden sie es gezielt tun.
Die Indikation für eine Therapie in der menschlichen Dimension stellt sich z. B.
- bei einem Patienten mit blockierter Lernfähigkeit,
- oder eingefrorener Erlebnisfähigkeit,
- oder mit fehlender Krankheitseinsicht,
- oder bei Patienten mit infauster Prognose.
Der Arzt wird dann
- die Kreativität fördern,
- das Selbstbewusstsein stärken,
- und ihn ggf, beim Trauern begleiten.
- Liebe ist das wirksamste Therapeutikum.
Die Gefühlswelt bietet den direkten Zugang zur Ganzheit des Menschen
Die Erkennung von Gefühlen und ihrer Wiederbelebung ist die Grundlage jeder Patientenzentrierung. Solomon schreibt: „Alle Gefühle sind intentional. Sie betreffen uns in unserer Welt, auch wenn sie sich unterschiedlich stark an den beiden Polen der Subjektivität ausrichten: einige Menschen gehen ganz in der Situation oder in den Ereignissen auf (beispielsweise die Empörung gegen die Verwerflichkeit einer Untat) und sie kennen fast keinen Selbstbezug. Andere sind so selbstbezogen, dass sie keine Notiz von der Außenwelt zu nehmen scheinen, z. B. Schuldgefühle.“ (Salomon 2000)
Beispiele für einfühlsames therapeutisches Vorgehen
- Zum Einsatz eigener Kompetenzen und salutogener Ressourcen motivieren,
- Alternativen entwickeln,
- Emotionen auf den sachlichen Kern reduzieren,
- bisherige Zielsetzungen korrigieren und neu bewerten,
- empfohlene Verhaltensänderungen modellhaft durchspielen,
- wieder individuell und stufenweise ins Leben integrieren.
Nach:
Bahrs O, Sturm E, Sturm M. Den ganzen Menschen in der menschlichen Dimension behandeln und seine Gefühle wahrnehmen, in: Sturm E, Bahrs O, Dieckhoff D, Göpel E, Sturm M. Hausärztliche Patientenversorgung. Konzepte – Methoden – Fertigkeiten. Thieme, Stuttgart 2006, 362 - 380
Zitierte Literatur
Solomon F. (2000) Gefühle und der Sinn des Lebens. Frankfurt: Zweitausendeins
Prof. Dr. med. Eckart Sturm
Arzt für Allgemeinmedizin
Ziegelhofstr. 30
26121 Oldenburg
eckart.sturm(at)web.de