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Von den Anfängen des freien Spiels

Anna Tardos, Budapest

Spielfreude, Mühelosigkeit und Gelingen oder Ernsthaftigkeit, Be­mühen und Lernen?

  • Was sehen wir von diesen Möglichkeiten am Anfang des Lebens?
  • Was bringt der Mensch davon mit auf die Welt?
  • Interessiert er sich für das, was ihn umgibt, für die eigenen Fähigkeiten?
  • Ist sein Interesse tief oder leicht­hin?

Jeder neugeborene Mensch ist ein Ereignis für seine Umgebung und kann gar nicht mit ge­nü­gen­der Bewunderung wahr­ge­nom­men werden. Wir wissen zwar, dass das Neugeborene ein Ver­sprechen voll Zukunft in sich birgt, dennoch bleiben uns viele seiner Fähigkeiten verborgen.

Die Tatsache, dass der Säug­ling so klein und hilflos ist und vieles von dem, was wir Erwachsenen schon seit langem kennen, noch nicht weiß, ist äußerst irreführend. Es täuscht viele Laien und oft auch Fach­leute.

Der Trugschluss, das kleine und tatsächlich auf uns an­gewiesene Wesen müsse alles von uns erlernen, ist daher weit verbreitet, d.h. die Meinung, dass wir Erwachsene ihm bei­bringen müssten, sich für etwas zu interessieren; dass es unsere Aufgabe sei, mit dem Kind zu spielen, es zu stimulieren, damit es neugierig wird, sich bemüht, übt und lernt.

Diese vom Erwachsenen aus­gehende, ich könnte auch sagen: egozentrische Anschauung ist einer der Faktoren, die bei den alltäglichen Betreuungsaufgaben und Problemen oft die be­wun­dernswerten Fähigkeiten ver­decken und dann verkümmern lassen, die alle Menschen mit auf die Welt bringen.

Wenn ich vom Anfang des freien Spieles spreche, möchte ich auf Grund der Entdeckungen der ungarischen Kinderärztin EMMI PIKLER (1902-1984), davon berichten, was ohne Führung von außen, ohne Un­ter­richt schon dem ganz jungen Säugling eigen ist.

Spielt aber der Säugling wirk­lich? Nach der klassischen Deu­tung der Psychologie nennen wir es Spiel, wenn sich der Spielende bewusst ist, dass er spielt, ein doppeltes Bewusstsein also. In diesem Sinne können wir in den ersten Monaten nicht von Spiel sprechen.

Wenn wir aber vom Spiel als von einem Tätigsein in breiterem Sinne sprechen, wenn wir Tä­tigkeiten, die vom Menschen ohne jeden direkt einsehbaren Nutzen, spontan und wiederholt als Selbstzweck ausgeübt wer­den, wenn wir solches Tun als Spiel bezeichnen, dann ist ohne Zweifel schon der Säugling in der Lage, aus innerer Motivation heraus zu spielen, vorausgesetzt er wird nicht gestört und ist nicht hungrig oder müde. Bei diesem Tätigsein handelt es sich oft um ein ernsthaftes Streben, ein wiederholtes Ausprobieren und intensives Bemühen, dem zugleich auch die Freude am Geschehenlassen und Gelingen innewohnt.


Einige Beispiele

Schon in den ersten Stunden nach der Geburt kann man be­obachten, dass der Blick des Neugeborenen auf seine Hand oder Faust fällt, die sich vor seinen Augen bewegt. Wochen und Monate vergehen, bis er, vielleicht bei einer zufälligen Bewegung entdeckt, dass diese, sich vor seinen Augen be­we­gende, manchmal vor­über­ge­hend verschwindende Etwas irgendwie zu ihm gehört, dass er dessen Bewegung beeinflussen kann; manchmal gelingt es ihm, ein anderes mal nicht, dennoch versucht er es immer und immer wieder: Wir sind Zeugen einer der ersten Offenbarungen mensch­lichen Interesses.

Es geht hier also nicht darum, dass wir Erwachsene das In­te­resse des Kindes wecken müs­sen, dass wir ihm etwas „Interessantes“ so lange zeigen, bis wir erreichen, dass es darauf aufmerksam wird!

Im Gegenteil, in seinen ru­hi­gen und ungestörten Momenten wird das Kind selbst aufmerksam auf etwas, es experimentiert mit beharrlichem Ernst und wird von keinem Misserfolg enttäuscht. Der Säugling versucht es immer wieder, und genießt dabei auch die neu erworbene Fähigkeit und Kompetenz, er plaudert mit seiner Hand, er freut sich, wenn es ihm gelingt, die Hand vor seine Augen zu bringen, und – wenn auch nur für eine kurze Weile – sie dort halten zu können.

Und dabei ist er erst vor drei oder vier Monaten auf die Welt gekommen!


Ich werde hier einige Sätze aus einem bekannten Fachbuch für Kleinkindpädagogik zitieren, um einen Vergleich zu geben, was wir nicht tun sollten (s. Rahmen unten): So also nicht!

Für das Kind in den ersten Lebensjahren ist es charakte­ristisch, sich intensiv und ernsthaft zu bemühen. Es weckt immer wieder meine Be­wun­de­rung, wie Säuglinge und Klein­kinder sich ständig neue und schwerere Aufgaben stellen. Das kleine Kind schreckt nicht vor Abenteuern zurück, wenn es z.B. eine sichere Lage oder Position verlässt und sein durch anhaltendes Üben erworbenes Gleichgewicht riskiert, um eine neue Lage oder Position aufzusuchen. Sein ganzer Körper schwankt, es fällt zurück, ver­sucht es aber immer wieder. Ein solcher Moment ist bei­spielsweise das erste Umdrehen des Säuglings vom Rücken auf die Seite, und eine ähnlich schwierige Situation ist es, wenn sich das Kind zum ersten Mal auf den Bauch dreht oder sich selbständig zum Stehen auf­rich­tet.

Was den Säugling zu der­artigen Unternehmungen drängt, ist schwer zu beantworten, wir können jedoch beobachten, wie er unentwegt von dem Wunsch beseelt ist, seine Fähigkeiten zu erproben und sich zu entwickeln. Dieses intensive Bemühen des Kindes wird – auch bei Miss­erfolgen – von Ausruh- und Er­ho­lungsphasen begleitet, und falls seine Versuche erfolgreich sind, von einer offensichtlichen, inneren Freude.

Die Grenzen eigener Fähig­keiten auszutesten, gehört im Säuglings- und Kleinkindalter zum Lebensinhalt des Kindes. „Was kann ich und was kann ich noch nicht tun?“, „Was gelingt mir heute, wozu ich gestern noch nicht fähig war?“, „Was ist es, was ich heute noch nicht kann, wozu ich aber morgen fähig sein werde?“

In dieser Zeit experimentiert das Kind nicht nur mit sich selbst, wie es in neue Positionen gelangen und sich auf eine neue Art und Weise fortbewegen kann; wie es zunächst ohne, dann mit konkretem Ziel z. B. rollend den Ort zu wechseln lernt. Es versucht darüber hinaus unentwegt, die Gegenstände, von denen es umgeben ist, zu erreichen, anzufassen, kennen­zulerne

Tätigkeitsprogramme im Alter vom ersten bis dritten Monat

Fördern wir seine Sinnesfunktionen!

  1. Die Arme des auf dem Rücken liegenden Babys über seinem Kopf bis zur Ebene der Tischplatte bewegen, dann zurück.
  2. Die Beine des auf dem Rücken liegenden Säuglings – seine Knie beugend – seinem Bauch annähern, dann zurück.

Fördern wir sein Sehen!

  1. Entfernen wir das Spielzeug aus seinem Blickfeld, dann bringen wir es dorthin zurück. Wenn der Säugling auf das wiederholte Erscheinen des Gegenstands nicht aufmerksam wird, soll der Gegenstand vor seinen Augen bewegt werden. Auf diese Weise wird das Kind zum Schluss erlernen können, seine Augen auf den Ort des verschwundenen Gegenstandes zu richten, und von dort dessen erneutes Erscheinen abzuwarten.
  2. Bewegen wir beide Hände des Babys vor seinem Gesicht so, dass es sie und ihre Bewegung wahrnehmen kann. Führen wir seine Hände vor seinen Augen zusammen, dann nehmen wir sie wieder auseinander.

Mit seiner fragenden Ein­stel­lung erforscht es unaufhörlich das erreichbare Spielzeug und dessen physikalische Eigen­schaf­ten. Während der Säugling mit den Dingen hantiert und aus­probiert, wozu sie sich eignen, was er alles mit ihnen anfangen kann, wird er von Mal zu Mal geschickter und stellt diese Geschicklichkeit wiederum gleich auf die Probe. Dabei scheut er keine Mühe und wirkt innerlich zufrieden und aus­ge­glichen.

In der Tätigkeit des Kindes ist das schöne Zusammenspiel von innerer Motivation und Zufall zu beobachten. Manchmal lässt sich der Säugling von der gegebenen Situation – z.B. von einem evtl. dahin rollenden Ball – be­ein­flussen, ein andermal ist er wie­derum ein echter Forscher, der sich bemüht, das aus­gewählte Körbchen zu erreichen und mit Ausdauer probiert, wie er mit diesem die einmal ent­deckte, kreiselnde Bewegung erneut wieder hervorrufen kann. Wäh­rend er sich so mit den Dingen beschäftigt, bringt der Säugling Zufälliges und Er­strebtes – die Motive, die seine Auf­merk­sam­keit erregen können – spielend miteinander in Ver­bin­dung.

Ich möchte Sie besonders auf den Augenblick aufmerksam machen, wenn der Säugling zwei Gegenstände miteinander in Beziehung bringt. Im Grunde ereignet sich auch das nicht in einem einzigen Augenblick: Es kommt nämlich vor, dass das Kind zur gleichen Zeit in jeder Hand ein Spielzeug hält, aber eins von den beiden vergisst und fallen lässt. Darauf folgt eine Zeit, in welcher der Säugling abwechselnd mal den einen mal den anderen Gegenstand be­trachtet, und erst dann können wir beobachten, dass sich beide Gegenstände gleichzeitig in seinem Blickfeld befinden.

Dieses Geschehen geht dem Moment voraus, in dem er die beiden Dinge einander nähert und sie miteinander vergleicht.

Beim Vergleich von zwei ver­schiedenen Dingen befinden wir uns am Anfang des logischen Denkens. Daraus entwickelt sich später die Entdeckung hohler Gegenstände und ihrer Ver­wend­barkeit (Becher, Eimer, Körbe und Schüssel), die un­zäh­ligen Variationen von Hin­eintun und Herausnehmen.

Der noch nicht einjährige Säugling legt sozusagen un­auf­hörlich etwas in ein anderes „Etwas“ hinein, er bewegt es darin, er nimmt es wieder her­aus. Im Tun erfährt und variiert er die Begriffe: kleiner und größer, innerhalb und außerhalb, zusammengehörig und trennbar und spielt mit ihnen.

Die Fortsetzung davon ist am Anfang des zweiten Lebens­jahres das Sammeln und Grup­pieren des Ähnlichen und Gleichen, das Aufstellen in Reihen oder Gruppen. Ich kann es mir nur so erklären, dass dies eine, von der Freude am Spiel geprägte, lustvolle Vorstufe des späteren abstrakten Denkens ist.

Die Spieltätigkeit des Kindes entwickelt sich auch in anderen Richtungen weiter:


Ein Beispiel

Gabor ist ein Jahr alt. Wir mussten uns die Video­auf­nahmen mehrmals an­schauen, bis wir überzeugt waren, dass in seinem Tätigsein, in seinem Spiel eine völlig neue Er­schei­nung aufgetaucht war. Er sym­bo­lisiert Tätigkeiten! Von wem lernte er das? Kann ihm jemand beigebracht haben, dass er sich vom umgekippten Körbchen den Vorgang des Essens nach­ahmend mehrmals ein „Nichts“ zum Munde führt? Wer hat ihm das gezeigt? Kann man überhaupt einem einjährigen Kind so etwas beibringen?

Gabor ist sich nicht bewusst, dass er spielt, er weiß aber schon etwas sehr wichtiges, er weiß, dass das Nichts, das er zum Mund bringt, kein wirkliches Etwas – nichts Wirkliches ist.

Zum Schluss möchte ich noch eine häufig vorkommende und wichtige beziehungsbildende Ver­haltensweise erwähnen: die vom Kind – auch schon vom Säugling – angeregten schel­mi­schen Spiele. Ihre bekannteste Form ist das Guckguck-Versteckspiel, in dessen Mittel­punkt die Freude darüber steht, dass man sich wieder findet. Diese schelmischen Spiele er­finden die Kinder selbst und praktizieren sie in vielfältigen Varianten.


Hier einige Beobachtungen

Janos

10 Monate:
Oft spielt er mit mir vom Spielgitter aus Verstecken. Er klettert auf das Podest und lauert unter bzw. über den oberen Gitterstäben; wenn sich unsere Blicke treffen, lächelt er glücklich.

11. Monat:
Während ich ihn ausziehe, hält er sich die ausgezogenen Kleidungsstücke vors Gesicht, nimmt sie dann wieder weg und sieht mich fröhlich an. Im Spielbereich späht er neben oder unter dem Bett hervor nach mir. Einmal, als er im Bett war, spielte er mit mir Verstecken, indem er immer wieder einen Zipfel seines Tüchleins erfasste, es sich vor das Gesicht hielt und wieder losließ. Nach dem Essen erfasst er manchmal meine Hand, zieht sie an sein Gesicht und schiebt sie wieder weg.

Marianna (12 Monate):

Sie stülpte sich einen Eimer über den Kopf, nahm ihn dann plötzlich wieder herunter und spielte auf diese Weise mit mir Verstecken. Währenddessen lachte sie sehr. Nachdem sie sich das Lätzchen abgenommen hatte, legte sie es mir in die Hand, ließ es aber nicht los, sondern zog es weg, als ich es ergreifen wollte. Sie wiederholte dies noch zwei- bis dreimal, dann gab sie es mir. Das gleiche Spiel spielte sie beim Baden mit den soeben ausgezogenen Schuhen und Socken.

Diese schelmischen Spiele bereiten Freude und erregen Aufmerksamkeit; außerdem sind sie ein Zeichen des Vertrauens. Mit der Zeit werden sie zu einem Ritual und verstärken die Zusammengehörigkeit und das Gefühl der Intimität und Komplizenschaft zwischen Erwachsenem und Kind.

Neben vielen anderen Faktoren spielt für das Auftreten der schelmischen Spiele die Bewegungsfreiheit eine wichtige Rolle, da erst die freie Bewegung das Sich-Annähern, das Berühren, aber auch das spielerische Sich-Entfernen ermöglicht. Ebenso trägt zur Entstehung dieser Spielfreude bei, dass die Kooperation zur Gewohnheit wird; denn häufig besteht das Spiel gerade darin, diese durcheinander zu bringen oder zu unterbrechen. Die einzelnen Varianten der schelmischen Spiele haben viele gemeinsame Züge mit dem Humor. Das Kind drückt auf metakommunikativer Ebene aus, dass es sich jetzt um ein Spiel handelt.

Das Wesen dieser Verspieltheit besteht jedoch nicht im Abweichen von den Gesetzen der Logik, sondern in der Modifikation des gewohnten und erwarteten Verhaltens. Im Grunde spielt das Kind mit Regeln, testet die Toleranz des Erwachsenen, und während es diesen durch sein Spiel nötigt, bei ihm zu bleiben, ruft es ein gemeinsames Vergnügtsein hervor.

All dies setzt natürlich voraus, dass Regeln und Gewohnheiten überhaupt vorhanden sind, und sich das Kind und Erwachsener gut kennen.

Zusammenfassend möchte ich sagen, wir Erwachsenen sind dafür verantwortlich, ob sich all diese wunderbaren Möglichkeiten der ernsthaften und fröhlichen Spieltätigkeit des kleinen Kindes, über die ich hier gesprochen habe, entfalten können.

Adresse der Verfasserin

Anna Tardos
Pickler- Institut, Lóczy Lajos u. 3, 
H- 1022 Budapest
e-mail: a.tardos(at)freemail.c3.hu