Wahlpflichtfach „Salutogenese und ärztliche Praxis“
Einleitung
Ottomar Bahrs
Die Veranstaltung wird seit dem WS 2004/05 als Wahlpflichtfach im klinischen Abschnitt für Medizinstudenten angeboten und bietet Gelegenheit, das Salutogenese-Konzept kritisch zu diskutieren und Umsetzungsmöglichkeiten an Beispielen aus der ärztlichen Praxis zu prüfen. Ausgehend von videodokumentierten (hausärztlichen) Sprechstundengesprächen sowie ergänzender biographischer Interviews mit Patienten und Ärzten wird in Gruppendiskussionen (bis 10 Teilnehmer) herausgearbeitet, wie sich lebensgeschichtlich jene Strukturen ausbilden, die ihren Ausdruck in riskantem bzw. gesundheitsförderlichem Verhalten finden. Das Seminar führt zugleich ein in qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden. Das empirische Material entstammt dem 2002-2006 durchgeführten Forschungsprojekt „Salutogenetische Orientierung in der hausärztlichen Praxis“ (Bahrs u. Matthiessen 2007).
Arbeitsweise
Das Seminar wird als 5 Tage à je 5 Stunden umfassende Blockveranstaltung durchgeführt und ist wie folgt aufgebaut:
- Impulsreferate zur Einführung in die thematischen Schwerpunkte (ca. 1 ½ Stunden einschließlich Diskussion)
- themenzentrierte Diskussion videodokumentierter Konsultationen („Videoseminar“, ca. 1 ½ Stunden mit Fokussierung auf non-verbales Verhalten und/oder sprachliche Interaktion)
- Analyse der biographischen Kontextuierungen des jeweiligen Gesundheits- und Krankheitsverständnisses der Interakteure (Genogrammanalyse; Interaktionsanalyse nach dem Verfahren der strukturalen Hermeneutik) (ca. 1 ½ Stunden)
Thematische Schwerpunkte sind die Art der Beziehungsgestaltung von Patient und Arzt, die biographischen und situativen Hintergründe der Krankheits- und Gesundheitsvorstellungen von Patienten und Ärzten, der je spezifische Kommunikationsstil des Arztes („Arzt als Subjekt“) sowie strukturelle Voraussetzungen für eine gesundheitsförderliche Praxis. Dabei werden die folgenden unterschiedlichen Handlungssituationen durchgespielt:
1. Tag: Erstgespräch. Hierbei wird der Beziehungsaufbau basierend auf Interaktionsanalysen nachgezeichnet.
2. Tag: Langzeitversorgung. Gestützt auf ein Genogramm wird die Herausbildung von Risiken und Ressourcen hypothetisch rekonstruiert und zur Arzt-Patienten-Interaktion in Beziehung gesetzt.
3. Tag: Bilanzierungsgespräch. Bei der Analyse wird auf Techniken des narrativen Nachfragens aufmerksam gemacht und für Gegenübertragungsreaktionen sensibilisiert.
5. Tag: Motivationsgespräch. Exemplarisch wird hier nachgezeichnet, wie Verhaltensänderung bei Patienten initiiert werden kann. Zudem werden exemplarisch biographische Hintergründe für die je subjektive Ausprägung des ärztlichen Kommunikationsstils aufgezeigt.
6. Tag: Hausbesuch. Hier wird die Analyse non-verbalen Verhaltens in den Mittelpunkt gestellt.
Ergebnisse
Die Teilnahmekontinuität ist hoch. Die Verbindung zwischen Theorie und Praxis wird sehr geschätzt und die diskutierten Themen als sehr anregend und erkenntnisreich bewertet. Die Evaluation der Veranstaltung war ausgesprochen positiv (Mittelwerte zwischen 1,2 (bezogen auf „zur Mitarbeit anregend“ und „Schulung im Umgang mit Patienten“) bis 1,7 (bezogen auf „Kompetenz für ärztliches Handeln“) auf einer 6-stufigen Likkert-Skala mit den Polen 1=sehr gut und 6=unge.). Zur Veranschaulichung einige Freitextantworten:
- „Gruppengröße nicht verändern, ist ideal“
- „Sehr gute Diskussionsrunden; anregend für Mitarbeit“
- „Hat viel Spaß gemacht!!“
- „Im Endeffekt: ein sehr guter, interessanter Kurs, der uns in unserer Arbeit als Mediziner sehr hilfreich sein wird! Danke!“
Eine weitere Anregung - „mit Anamnesekurs der Psychosomatik / Allgemeinmedizin fest verknüpfen“ – wird, so sehr dies sachlich zu begrüßen wäre, aufgrund fehlender personeller Ressourcen auf absehbare Zeit wohl nicht umsetzbar sein.
Literatur
Antonovsky A: Salutogenese – Zur Entmystifizierung der Gesundheit, dgvt-Verlag, Tübingen 1997
Bahrs O, Matthiessen PF (Hrsg.): Gesundheitsfördernde Praxen; Huber Verlag, Bern 2007
Bengel J, Strittmatter R, Willmann S: Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert; BZgA-Materialien Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 6, Köln 1998 (kostenlos erhältlich über die BZgA, vgl. www.bzga.de
Hildenbrand B: Fallrekonstruktive Familienforschung; Leske+Budrich, Opladen 1999
Jork K, Peseschkian N (Hrsg.): Salutogenese und Positive Psychotherapie; Gesund werden – gesund bleiben; Hans Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle 2003
Löning P, Rehbein J (Hrsg.): Arzt-Patienten-Kommunikation; Walter de Gruyter, Berlin New York 1993
Schüffel W. Brucks U, Johnen R, Köllner V, Lamprecht F, Schnyder U (Hrsg.): Handbuch der Salutogenese: Konzept und Praxis, Ullstein Medical, Wiesbaden 1998
Wydler H, Kolip P, Abel T (Hrsg.): Salutogenese und Kohärenzgefühl – Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesundheitswissenschaftlichen Konzepts; Juventa Verlag, Weinheim und München 2002 [2000]
Anschrift des Verfassers

Dr. disc. pol. Ottomar Bahrs, Dipl. Sozialwirt,
Abt. Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie,
Waldweg 37
37073 Göttingen
email: obahrs(at)gwdg.de